Bauer, Wolfgang: Das Antlitz Chinas: Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München, Hanser 1990.
Gregor Paul (Universität Karlsruhe)
Ähnlich wie Wolfgang Bauers Studie China und die Hoffnung auf Glück ist auch seine groß angelegte Untersuchung Das Antlitz Chinas eine thematisch orientierte Darstellung und Erörterung zentraler Konzepte einer Kultur: in diesem Fall der philosophischen und psychologischen, aber auch der öffentlich etablierten Ich-Begriffe, sowie der Selbstdarstellungen einzelner Menschen. Es braucht nicht betont zu werden, dass damit auch Fragen nach Merkmalen und Wert des Individuums, nach dem Verhältnis des Individuum zu Gruppe, Gesellschaft und Staat, nach individueller Freiheit, moralischer Norm und gesellschaftlich-staatlicher Verpflichtung, ja öffentlichen Zwängen angesprochen sind. Soweit es um autobiographische Selbstdarstellungen als literarische Formen geht, kommen außerdem Fragen sprachlicher Artikulationsmöglichkeiten und literarischer Qualität ins Spiel. Bauer versucht die komplexe Problematik und das umfangreiche Material zu gliedern, indem er – grob gesagt – zwischen verschiedenen Epochen, zwischen Charaktertypen wie „Reinen“ und „Genialen“; Schicksalskategorien wie „Liebenden“ und „Verbannten“; einzelnen Funktionen; Kategorien wie Konfuzianern, Taoisten, Buddhisten, „Historikern“, „Philosophen“, „Gelehrten,“„Mönchen“ und „Poeten“; aber auch zwischen einzelnen Literaturgattungen – wie Gedicht, Brief, Nachwort, Testament, Grabinschrift, annalistischem Lebenslauf, „Interview-Autobiographie“ und Bekenntnis – unterscheidet und entsprechende Kombinationen bzw. Zuordnungen vornimmt. So erreicht er ein instruktives, übersichtliches Inhaltsverzeichnis, von dem ich im Folgenden einige Punkte wiedergebe:
„Erstes Kapitel: Das Ich und die Einsamkeit (600-200 v. Chr.)
I.
Das Ich in der Sprache
II.
Lied und Klage
Enttäuschte Liebe [...]
III. [...] Schamanen. Einfältige und Wahnsinnige. Eremiten und Opponenten.
IV. Reine und Verbannte [...]
V.
Leben und Ich in der frühen Philosophie [...]
Taoistische Selbstvergessenheit. Konfuzianische Selbsthingabe [...]
Zweites Kapitel. Historiker und Philosophen (200 v. Chr. – 200 n. Chr.) [...]
I. [...] Ssu-ma Ch’iens [Sima Qians] Nachwort-Autobiographie. Frühe Bezeichnungen für die Autobiographie [...]
II.
Schuldbekenntnis und Schambekenntnis [...]
III.
Nachempfundene Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung von Frauen [...]
Drittes Kapitel. Helden und Eremiten (200 – 600) [...]
IV.
Selbstverteidigung und Selbstrechtfertigung [...]
Viertes Kapitel. Mönche und Poeten (400 – 900)
I.
Das Ich in Buddhismus und ‚Neotaoismus’ [...]
II.
Religiöse Beichten [...]
III.
Bekenntnis und Verlust des Gesichts [...]
Fünftes Kapitel. Beobachter, Loyalisten und Diskriminierte (900 – 1400) [...]
III.
Einheit und Loyalismus
Das Ideal der Treue. Persönliche Bindungen an Fremddynastien. Feng Tao [Feng Dao] als Schreckensbild des illoyalen Untertans
IV
Lebenserfüllung im Patriotismus [...]
Wen T’ien-hsiangs [Wen Tianxiangs] zwiespältiger Opfertod [...]
Sechstes Kapitel. Stoiker und Exzentriker (1400 – 1700) [...]
IV.
Philosophische Selbstverwirklichung und Gewissenserforschung [...]
V.
Gewissenserforschung und Bekenntnis [...]
Vom Selbstbekenntnis zur Selbstverfluchung [...]
Siebtes Kapitel. Realisten und Romantiker (1700 – 1800)
I.
Loyalismus und Privatgelehrtentum [...]
Zwiespältige Selbstfindungen im Angesicht der Fremdherrschaft [...]
Achtes Kapitel. Schriftsteller und Propagandisten (1770 – 1940) [...]
V.
Neue Selbstdarstellungen von Frauen [...]
Neuntes Kapitel. Bekenner und Kritiker (seit 1920)
I.
Memoiren, Entwicklungsschilderungen, Jugendzeit [...]
Die Abfassung von Autobiographien als pädagogische Übung
II.
Autobiographisches aus zweiter Hand [...]
Der Lebensbericht Mao Tse-tungs [...]
III.
Bekenntnis, Selbstbekenntnis, Selbstkritik
Traditionelle Beichte und moderne Gedankenreform. Musterbücher für Schuldbekenntnis und Autobiographie. Der Meister der Selbstkritik Feng Yu-lan. Das Bekenntnis des letzten Kaisers und die Frage nach der Wahrhaftigkeit. Der Kampf gegen den Individualismus.
IV.
Die nostalgische Insel [Taiwan] [...]
Anhang [...]
Anmerkungen. Literaturverzeichnis. Register. Chinesisches Zeichenglossar [...]“
Dieser Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis mag das einleitend Gesagte noch deutlicher machen. Bauer ist ersichtlich um systematische und systematisch gegliederte Vollständigkeit bemüht. Und in der Tat wird er seinem Anspruch soweit gerecht, wie das im Rahmen von 800 eng bedruckten Seiten möglich ist. Er skizziert zunächst die sprachlichen Voraussetzungen chinesischer Ich-Artikulation (Erstes Kap., I). D. h. er gibt an, wie man sich im Chinesischen selbst bezeichnete und bezeichnet. Dabei weist er unter anderem auch darauf hin, dass es mitunter komplexerer Ausdrücke bedürfte, um etwa ‚ich’ und ‚wir’ zu unterscheiden und dass es weithin üblich war, autobiographische Texte in der dritten Person zu formulieren. Bauer sieht in diesen sprachlichen Merkmalen Indizien für eine gewisse Zurückhaltung des chinesischen Individuums, sich selbst explizit als Einzelner gegen andere abzusetzen. In seinen grundsätzlichen Äußerungen zu ‚Konfuzianismus’, ‚Taoismus’ und ‚Buddhismus’ versucht er dann, diesen Interpretationsansatz auszubauen und zu bestätigen bzw. zu verstärken (Erstes Kap., IV, V; Viertes Kap., I). So betont er die ‚konfuzianische’ Forderung an die ideale Persönlichkeit, individuelle Interessen zurückzustellen und sich dem Gemeinwohl oder Wohl der Gesellschaft zu widmen; die daoistische Ideale der unterschiedslosen Naturverbundenheit und des Aufgehens im dao; und schließlich das buddhistische Konzept der Ich-Losigkeit. In seiner Erörterung von Kommunismus und Maoismus unterstreicht er das Anliegen der kommunistischen Parteien der Sowjetunion und Chinas, den Einzelnen zum sozusagen integralen, individualitätslosen Teil des Ganzen zu formen (Neuntes Kap., III). Bauer leistet damit zweierlei. Erstens beschreibt er in einem sozusagen synchronen Ansatz die sprachlichen und theoretisch-inhaltlichen Grundlagen chinesischer Selbstdarstellung. Ausdrücklich zu erwähnen ist dabei, dass Bauer auch die chinesischen Bezeichnungen für autobiographische Selbstdarstellungen wiedergibt (Zweites Kap., I). Zweitens rekonstruiert er in einem diachronen Durchgang die Wirkungsgeschichte einzelner Kategorien und Typen chinesischer Selbstdarstellung als Versionen der allgemeinen sprachlich-theoretischen Voraussetzungen.
Bauers Interpretation ‚chinesischer Ich-Auffassung’ ist nicht neu. In der Tat ist die Überzeugung, dass, übertrieben ausgedrückt, in der Geschichte Chinas das Individuums ‚nichts’, die Gruppe, die Gemeinschaft oder die Gesellschaft aber ‚alles’ (gewesen) sei, verbreitet und einflussreich. Ihr führender Vertreter im deutschsprachigen Raum ist Rolf Trauzettel (1990). Sie wird jedoch selbst in populären Magazinen wie dem Spiegel (16/2002, S. 187) kolportiert, in der sie sich in der absurden Wendung „Konfuzius lehrte die Chinesen die Wonnen der Unterwerfung“ wiederfindet, einer in jeder Hinsicht unhaltbaren Behauptung (Paul 2001, Paul 2002). Etwas moderater formuliert, besagt die Interpretation, dass Bescheidenheit, Altruismus, Zurückhaltung in der Selbst-Darstellung, Rollenbewusstsein; das Vermögen und Bemühen, sich unter weitgehender Aufgabe individueller Interessen in ein größeres Ganze einzufügen, ja in ihm aufzugehen; eine gewisse Geringschätzung des Ich im Vergleich zu Gesellschaft, Natur (dao) oder Auflösung im Nirwana für das traditionelle chinesische Denken und Handeln kennzeichnend seien, und zwar sowohl in Form normativer Ansprüche wie im tatsächlichen Verhalten selbst. Vorsichtiger als Trauzettel geht Bauer jedoch nicht soweit, die spezifischen sprachlichen Merkmale der chinesischen Ich-Artikulation als starkes Indiz einer kritischen Einstellung gegenüber der Individualität anzusehen. Bei all seinem Bemühen um die Identifikation und Beschreibung einer allgemeinen Grundlage chinesischer autobiographischer Selbstdarstellungen lässt er keinen Zweifel daran, dass eine beachtliche Zahl dieser Darstellungen die eigene, spezifische Individualität betonen, und zwar absichtlich und in pointierter Form.
Besonders gelungen ist Bauers synchrone und diachrone Erörterung der autobiographischen Äußerungen aus dem Bereich ‚Kritik – Selbstkritik – Gewissensforschung – Bekenntnis – Beichte – Selbstanklage – Selbstverfluchung’. Natürlich kann er dabei nicht jede Form der Selbstkritik als Feststellung individuellen Versagens gegenüber Ansprüchen eines größeren Ganzen – der Familie, der eigenen Dynastie, dem dao, der „Leere“ oder etwa der kommunistischen Partei – erklären, aber er vermag es doch in vielen Fällen, und sei es auch nur, indem er einschlägige Aspekte herausstellt. Es mag auch sein, dass Bauer seine Beispiele entsprechend ausgewählt hat. Will man seine Untersuchung kritisieren, dann vielleicht in eben diesem Punkt: bei allem erkennbaren Bemühen um Differenziertheit wird Bauer dem auch weithin nachweisbaren Bemühen um die Art der Individualität, die man im Deutschen als moralische Selbstbestimmung bezeichnet, nicht ganz gerecht, und dies, obwohl er zahlreiche Äußerungen zitiert, die (auch) entsprechend interpretiert werden könnten. Indem die Autoren Ziele wie Ruhm, Ehre, Geld und Wohlstand, Familienwohl usw. als Handlungsnormen ablehnen, brauchen sie nicht unbedingt einem größeren Ganzen dienen zu wollen, sondern können sich auch einfach am ren(dao), dem „Weg des Menschen“, der Goldenen Regel oder bestimmten Tugenden wie ren, der „Menschlichkeit“, oder yi, der „Rechtschaffenheit“, orientieren. Ihre moralische Selbstbestimmung bestünde in ihrer freiwillige Anerkennung der letztlich höchsten moralischen Normen oder Tugenden. Diese Form der Autonomie findet sich freilich vor allem im klassischen ‚Konfuzianismus’, wie er in Lunyu, Menzius und Xunzi formuliert wurde. Wiewohl durchaus wirkungsmächtig, entwickelte er sich freilich nie zu einer der vorherrschenden Traditionen, und er spielt wohl auch deshalb in Bauers Untersuchung keine sonderlich große Rolle.
Allein die Wahl und ausführliche Behandlung des Bereiches ‚Kritik – Selbstkritik – Gewissensforschung – Bekenntnis – Beichte – Selbstanklage – Selbstverfluchung’ ist freilich ein Verdienst. Als einer der wenigen deutschen Sinologen macht Bauer damit auf die überragende Relevanz dieser Thematik aufmerksam. Insbesondere die philosophisch und ideologisch-politischen Ressourcen für eine bewusste Zukunftsgestaltung werden von deutschen Sinologen kaum beachtet. Wenn sie, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, auch bei Bauer zu geringe Aufmerksamkeit finden, so zeigt doch seine Studie immerhin an, dass es diese Ressourcen gibt, und zwar in nicht geringem Maß, kann doch gerade das von Bauer beobachtete angestrengte Bemühen der politischen Mächte in China, das Mittel der Selbstkritik zur Schwächung, ja Auflösung und Zerstörung von Individualität im Interesse der übergeordneten Macht einzusetzen, auch als Versuch gewertet werden, dieses Mittel so zu leiten, so zu kanalisieren, dass es seine inhärenten Möglichkeiten, ja Aufgaben geradezu negiert und pervertiert.
Erstaunlich und beeindruckend ist die Fülle der Beispiele, die Bauer aus dem Spektrum ‚Kritik – Selbstkritik – Gewissensforschung – Bekenntnis – Beichte – Selbstanklage – Selbstverfluchung’ präsentiert. Eines seiner ersten Exempel ist Ch’ü Yüan [Qu Yuan], der um 300 vor unserer Zeit lebende berühmte Gelehrte, Staatsmann und Lyriker und Verfasser der Elegie Lisao, „Begegnung mit dem Leid“ (S. 57). Qu Yuan sieht sich in seiner Selbstdarstellung als einen reinen Menschen, der an eben seiner Reinheit und Moralität scheiterte. Ganz im Sinne des klassisch-konfuzianischen Konzepts kritischer Loyalität kritisierte er seinen Fürsten und fiel deshalb – also ungerechterweise – in Ungnade. Seine Enttäuschung darüber, nicht ‚gefragt’ zu sein, sozusagen unter Wert gehandelt zu werden, soll ihn schließlich zum Selbstmord bewegt haben. Eine instruktive und auch sonst lesenswerte Ergänzung der Darstellung Bauers sind übrigens Ernst Schwarz’ Ausführungen über Qu Yuan (1994).
Qu Yuan ist nur ein Beispiel der vielen ‚klassisch-konfuzianischen’ Ratgeber und Gelehrten, die ihre Aufgabe nicht zuletzt in der Bereitschaft zu loyaler Kritik sahen, dabei aber nicht unbedingt im Interesse eines ‚größeren Ganzen’ oder gar eines ‚größeren Ganzen’ allein, sondern letztlich (auch) im Interesse einfach der Menschlichkeit handeln wollten. Bei Bauer wird nicht explizit klar, dass Selbstkritik ja auch als Version prinzipieller Offenheit für Kritik zu begreifen ist, die ihrerseits wiederum die Kritikbereitschaft anderer voraussetzt. Hinter allem freilich steht die Überzeugung, dass kein Mensch in der Lage ist, sich alle erforderlichen Kenntnisse allein anzueignen, dass jeder fehlbar ist und dass Kritik, Kritikbereitschaft und Offenheit für Kritik schon deshalb unumgänglich und empfehlenswert seien (Paul 2001).
Auch der berühmte Historiker Sima Qian (ca. 145 – 90 v. Chr.) fiel in Ungnade, weil er seiner Pflicht zu loyaler Kritik nachkam. Er wurde sogar zur Kastration verurteilt. Als Kastrierter weiterzuleben, musste er als qual- und schamvoll empfinden. Nach dem Selbstverständnis der idealen Persönlichkeit wie nach eigenem Selbstverständnis musste er sich – anders als Qu Yuan, der sozusagen aus eigenem Entschluss handelte – geradezu zum Selbstmord gezwungen sehen. In seiner „Nachwort-Autobiographie“ zum Shiji, seinen „Historischen Aufzeichnungen“ (Bauer, S. 80), und in einem berühmten, wie Qu Yuans Klagen paradigmatisch gewordenem Brief an einen Freund rechtfertigt Sima Qian denn auch seine Entscheidung, weiterzuleben. Er habe sein Geschichtswerk abschließen müssen. Bauer übersetzt fast den ganzen Brief. Wie mit so vielen anderen Übersetzungen, die sein Buch einschließt und die es auch zu einer Anthologie machen, vermittelt er auf diese Weise instruktive und beeindruckende, ja menschlich berührende Informationen. Ich selbst lese Sima Qians Bekenntnisse – in Bauers Übersetzung – weniger als Eingeständnis eigener Schuld denn als Reflexion über die unlösbaren Konflikte, die eine Entwürdigung mit sich bringt (vgl. insbes. S. 86). Einerseits möchte, ja kann man mit der – so oft unabweisbaren – Erinnerung an die eigene Entwürdigung kaum weiterleben, lässt sie doch so gut wie keine Selbstachtung mehr zu. Andererseits ist man sich zu schade, sich umzubringen. Zudem ist das Leben einfach zu lebenswert. Wie viele andere, die so erniedrigt wurden, dass, wie Bauer übersetzt, die „ganze Würde“ „in Ketten“ lag, konnte sich Sima Qian freilich nicht gegen sein Schamgefühl wehren und zog sich deshalb weithin aus dem öffentlichen Leben zurück. Schamgefühl ist ja weniger Ausdruck mangelnder Selbstachtung als Bewusstsein öffentlicher Verachtung.
Im Anschluss an die Erörterung von in bestimmter Hinsicht ähnlichen Beispielen kritisch-loyaler und deshalb ungerecht behandelter Persönlichkeiten kommt Bauer (S. 96f.) denn auch auf die verbreitete Unterscheidung zwischen „Schuld und Scham“ und „Schuld- und Schamkulturen“ zu sprechen. Dabei stellt er treffend fest, dass diese Differenzierung bestenfalls bedingt überzeuge und die Phänomene Schuld und Scham eher allgemein menschlicher Art seien.
Sima Qians Bezeichnung seines autobiographischen Nachwortes, tzu-hsü [zixu], „selbstverfasstes Nachwort“, wurde schließlich als Bezeichnung für die Autobiographie überhaupt verwendet (S. 81f.), doch gab es auch andere, mitunter recht emphatische Bezeichnungen. Zu ihnen gehörten auch tzu-sung, „Selbstanklage“, und tzu-tsu, „Selbstverfluchung“ (S. 471-478). Sie charakterisierten freilich bereits ein Genre, dass zunächst neokonfuzianische Strenge reflektierte.
Zu den Glanzstücken der Untersuchung Bauers gehören auch seine Darstellungen der „Sieben Weisen vom Bambushain“ und da insbesondere des berühmtesten der Gruppe, Hsi K’angs [Xi Kangs] (223-262) (S. 149-155), und des Historikers Fan Yehs [Fan Ye] (398-44) (S. 183-186). Bauer zeichnet Xi Kang vor allem als genialen, dem Staatsdienst abgeneigten Daoisten. Dennoch macht er zumindest implizit deutlich, wie sehr auch Xi Kang als kritisch-loyaler Konfuzianer handelte bzw. verstanden werden kann. Er wurde wegen Äußerungen hingerichtet, die als Kaiser-kritisch ausgelegt werden konnten. Seine grundsätzliche Einstellung bringt Xi Kang in leicht ironischen Versen wie den folgenden, autobiographisch gemeinten Zeilen zum Ausdruck: „Wer Gutes will, darf nach Ruhm nicht streben./ Wer mit dem Strom schwimmt und sich unterwürfig zeigt und schweigt, nur der wird nicht zu bereuen haben./“ (Bauer, S. 154) Pointiert gesagt: Kritik(bereitschaft) war ihm auch ein Lebenselexier. Fan Ye, der Verfasser der Hou Hanshu, der „Geschichte der Späteren Han-Dynastie“, wurde – und nun zitiere ich Bauers eigene Darstellung – „in eine Verschwörung verwickelt (zu der er sich allerdings, anders als das sonst meist der Fall war, ungeniert bekannte) und mitsamt seiner Familie zum Tode verurteilt.“ Er wurde gemeinsam mit Frau, Sohn und Mutter hingerichtet. Während er selbst auf dem Weg zur Hinrichtung „scherzte und sich schier vor Lachen ausschüttelte [...], beschimpfte ihn seine Frau, den „gemeinsamen Sohn an der Hand“, und traktierte ihn „seine alte Mutter“ „mit Ohrfeigen“. In einem vorab verfassten Abschiedsbrief an einen Neffen macht er aus seinem Wunsch nach intellektueller Eigenständigkeit und seinem Ziel, „niemals bloß hohles Geplapper“ zu bieten, keinen Hehl.
Trotz aller Öffentlichkeit, die die autobiographischen Äußerungen der einer kritischen Loyalität verpflichteten und zumindest insofern klassisch-konfuzianisch eingestellten Staatsdiener, Historiker, Schriftsteller und Gelehrten, wie es Qu Yuan, Sima Qian, Xi Kang und Fan Ye waren, später erlangten, wurden sie zunächst nicht öffentlich abgegeben und waren durch ein gewisse Zurückhaltung gekennzeichnet. Wenn das eigene Schicksal bedauert, beklagt oder, genauer besehen, erklärt und gerechtfertigt wurde, so geschah dies ohne rückhaltlos-aufdringliche Schuldbekenntnisse, ganz zu schweigen von Selbstbeschuldigungen vor einem größeren Auditorium. Der Einfluss daoistischer und buddhistischer öffentlicher Bekenntnisse und Beichten sollte das ändern. Bauer stellt denn auch überzeugend dar, dass sich der konfuzianische Gelehrte Liu Chih-chi [Liu Zhiji] (661-721) schließlich genötigt sah, zu Diskretion und Mäßigung zu mahnen (S. 239-244).
Schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus hielten Daoisten und Buddhisten Selbstkritik für entschieden wichtiger als Kritik. Anders gesagt, legten sie wenig, wenn nicht gar keinen Wert auf die klassisch-konfuzianische Tugend der Kritik(bereitschaft) als Form der Mitmenschlichkeit. Sie sahen in ihr wohl auch prinzipiell eher eine Anmaßung bzw. einen – an sich schon illegitimen – Versuch der Selbstbehauptung als eine Hilfestellung. Wie eingangs ausgeführt, versucht Bauer, dies recht ausführlich und in Einzelheiten gehend zu zeigen. Besonders überzeugend sind dabei seine Ausführungen über die politisch-religiös-sozialen Gruppierungen, die sich in den Unruhen zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert bildeten, und da vor allem seine Darstellungen der „Gelbturbane“ und des „Fünf-Scheffel-Reis-Daoismus“. Hier floss, wie Bauer letztlich – wenn auch nicht zusammenhängend – ausführt, in der Tat vieles zusammen: (1) Angst und Schrecken vor der fast alltäglichen politischen Gefahr und Gewalt, die der Niedergang der Han-Dynastie und die daraus resultierenden Machtkämpfe mit sich brachten; (2) das aus Angst und Schrecken geborene Verlangen nach Sicherheit und Frieden, das offen für Heilsbotschaften war; (3) das Bedürfnis nach Geborgenheit in einer schützenden Gruppe; (4) das ‚buddhistische Bewusstsein’, selbst die Schuld am eigenen Schicksal – dem eigenen Karma – zu tragen‚und dies, weil man fälschlicherweise zu sehr ‚am eigenen Ich’ hing; (4) das ‚daoistische Bewusstsein’, den natürlichen Gang der Dinge, ihr ziran, ihr „Von-selbst-so-Sein“ (S. 202ff) gestört und – etwa – in unbegründeter und gefährlicher individueller Geltungssucht und Gestaltungslust beeinträchtigt zu haben; und (5) das ‚daoistische Bewusstsein’, in einem all-umfassenden Ganzen (und letztlich dem dao) aufgehen zu sollen. So lag es nahe, über Bekenntnisse und Beichten zu versuchen, das als eigene Schuld begriffene Verhalten zu sühnen und dabei insbesondere den eigenen Egoismus und das eigene Geltungsbedürfnis zu offenbaren und zu verurteilen, ja, auf diese Weise sogar Krankheiten zu heilen. Dies öffentlich – vor der Gruppe, zu der man gehörte – gleich, ob primär politische Organisation oder buddhistischer Orden – und oft auch unter Adressierung von Geistern und Göttern zu tun, sollte wohl Scham und Reue erzwingen und (auch so) Glaubwürdigkeit dokumentieren, vor allem aber die Entscheidung signalisieren, seine eigenen individuellen Interessen – endlich – zurückzustellen und gänzlich in der Gruppe ‚aufzugehen’. Ich hielte es durchaus für treffend, wenn man diese Art öffentlicher Schuldbekenntnisse, Beichten und Gelöbnisse, sich zu bessern, als in deskriptivem Sinn ‚selbstzerstörerisch’ charakterisierte. Leider zitiert Bauer kein Beispiel eines entsprechenden Schuldbekenntnisses bzw. einer entsprechenden Beichte. Es dürften auch kaum Beispiele erhalten sein. Immerhin führt er jedoch an: „Ein gewisser Prinz von Ch’u [Chu], ein Halbbruder des Han-Kaisers Ming-ti [Mingdi] (reg. 58-76) hatte sich bestimmter Verfehlungen schuldig gemacht, für die er in einer öffentlichen Zeremonie [!] Buße tat. Er erlangte damit auch die Verzeihung des Kaisers, der sich dazu am Ende folgendermaßen äußerte: ‚Der Prinz von Ch’u hat die subtilen Worte (der taoistischen Gottheit) Huang-Lao rezitiert und den heiligen Tempeln Buddhas seine Referenz erwiesen. Er hat sich drei Monate lang (innerlich) gereinigt und gefastet [...] und vor den Geistern einen Schwur geleistet. Warum sollte man da mißtrauisch sein und noch daran zweifeln, dass er nicht wirklich Reue geleistet (hui-lin) habe?’“ (S. 212) Außerdem zitiert Bauer den Philosophen und Alchemisten Ke Hong (ca. 280-340), der über den Gründer des „Fünf-Scheffel-Reis-Daoismus“ bemerkte: „,[Zhang Ling] hatte den Wunsch, die Menschen durch ihr Gefühl für Reinheit und Scham zu regieren [...] Deshalb erließ er den Befehl, daß alle, die an einer Krankheit litten, sich sämtlicher Missetaten, die sie seit ihrer Geburt begangen hätten, erinnern sollten. Diese Erinnerungen müßten dann mit eigener Hand niedergeschrieben [...] werden und gleichzeitig müsse dann von allen ein gemeinsamer Schwur vor den Geistern abgelegt werden, dass man eher den Tod erleiden wolle, als noch einmal gegen die Gebote zu verstoßen. [...] Dadurch wurden bei den Leuten zum einen die Krankheiten geheilt, zum anderen aber auch das Schamgefühl angeregt, so daß sie nicht wieder zu sündigen wagten. Auch besserten sie sich aus Angst vor Himmel und Erde [...]’“ (S. 214)
Bauer selbst geht nicht soweit, ausdrücklich darauf hinzuweisen, wie sehr sich (a) die Struktur dieser Art öffentlicher Selbstbeschuldigungen und Beichten, (b) die Struktur der Selbstanklagen mancher Neokonfuzianer und schließlich (c) die Struktur der Selbstkritik im Maoismus gleichen. Öffentlichkeit und Radikalität der Selbstbeschuldigungen laufen auf eine Ich-Zerstörung hinaus. Zugleich ermöglichen sie die Kontrolle durch die übergeordnete politische Macht; zumal dann, wenn sie schriftlich fixiert und aufbewahrt wurden. Schließlich konnten sie Angst und Schrecken vor dieser Macht einflößen und zur unbedingten Unterwerfung führen: gleich, ob diese Macht das Haupt einer daoistischen Gruppe war; ob es sich um den Himmel handelte, an den man glaubte; ob sie das Kaisertum oder die kommunistische Partei war. Außerdem war die Aufforderung zur rückhaltlosen und öffentlichen Selbstkritik scheinbar wohlbegründet; denn selbstverständlich machten ja alle irgendwelche Fehler, hatte jeder irgendeine Schuld auf sich geladen, die es zu korrigieren oder zu sühnen galt. Zurückhaltung konnte dabei stets als unberechtigtes und bedenkliches Misstrauen gegenüber dem großen Ganzen, der herrschenden Macht, verstanden werden, als ein weiteres Vergehen also. Öffentlichkeit aber war unabdingbar, um Kontrolle zu gewährleisten, Verlässlichkeit zu sichern und Scham und Reue zu erzeugen und so optimale Wirksamkeit zu erreichen.
Neben bestimmten daoistischen und buddhistischen Richtungen und Gruppierungen schuf der Neokonfuzianismus die historischen Voraussetzungen, die schließlich in der maoistischen Idee und Praxis der ‚Selbstkritik’ gipfelten. Dies gilt jedenfalls aus makroskopischer Sicht. Die maoistische Konzeption war zugleich eine infame, im wortwörtlichen Sinn verlogene Pervertierung der klassisch-konfuzianischen Konzepte, und dies zumal, als sie unter anderem als Aufforderung zur Kritik an eigenen ‚konfuzianischen’ Überzeugungen formuliert war. Bauer stellt das im gegebenen Zusammenhang Besondere des Neokonfuzianismus klar heraus. Es ist der Übergang von einer Norm kritischer Loyalität, die sich letztlich moralischen Regeln und Tugenden – und nicht Personen – verpflichtet sieht, zur Loyalität gegenüber Personen und Dynastien. Bauer erklärt diesen Wechsel auch recht einleuchtend. Er begreift ihn als Reaktion auf die Bedrohung durch andere Völker und Nationen oder, allgemeiner, das ‚Unchinesische’ überhaupt, und als Widerstand gegen Fremdherrschaften. Außerdem begreift Bauer eine der leitenden Interessen der Song-Zeit als Streben nach Einheit bzw. Vereinheitlichung überhaupt und damit als Katalysator eines „Patriotismus“. Bauer führt aus:
„Die Begeisterung für alles, was sich mit dem Oberbegriff ‚Vereinheitlichen’ [...] fassen ließ, eine Begeisterung, die für die Entstehung des Neokonfuzianismus [...] maßgeblich war [...], war [...] ein Leitmotiv, das [...] sich noch steigerte. Im Neokonfuzianismus, der die Ideen des Buddhismus und Taoismus weitgehend in sich aufsaugte, führte es zur immer differenzierteren Herausbildung der Idee eines Absoluten ‚Allerhöchsten’ (t’ai-chi) [taiji], das hinter Natur- und Menschenwelt stehen sollte. In der Historiographie äußerte er sich im Vordringen der durchlaufenden annalistischen Geschichtsschreibung gegenüber der bis dahin mehr geschätzten historischen Beschreibung von jeweils einer bestimmten Dynastie. Im Familienleben wurde es spürbar in der Festlegung der Frau auf einen einzigen Ehemann mit allen Folgerungen, die sich daraus für den Bewegungsraum der Frau ergaben: Nicht aus Zufall hat sich ja die Unsitte des Füßebindens bei den Frauen in der Sung- [Song-] Zeit durchgesetzt. Und im öffentlichen Leben schließlich ließ er sich daran ablesen, daß die Tugend der Loyalität zur Zentraltugend schlechthin hochstilisiert wurde, auf die alle Beamten und Politiker, ja praktisch alle Angehörigen der Oberschicht verpflichtet wurden. Jedermann dürfte grundsätzlich nur einem einzigen Herren dienen; beim Tode des Herrschers, noch mehr aber beim Untergang der Dynastie war er verpflichtet, von allen seinen Ämtern zurückzutreten und sich wie ein Trauernder jeglicher Tätigkeit zu enthalten. Als Idealbeispiel wurden [... zwei] Brüder aus dem 11. Jh. v. Chr. gepriesen, die sich aus Treue zu der Dynastie, unter der sie geboren worden waren, zu Tode hungerten, um nicht ‚fremdes Brot zu essen’.“ (S. 310).
Bauer weist dann darauf hin, dass dieses Konzept vom, wie ich es nenne, klassisch-konfuzianischen Konzept kritischer Loyalität abweicht, indem er betont, dass es im Neokonfuzianismus kein Begriff ergänzte, der entsprechende Verpflichtungen des Herrschers gegenüber seinen Untertanen festlegte. Nach Bauers Auffassung fehlte im Neokonfuzianismus der „Gegenbegriff ‚Mitgefühl’ (shu)“ (S. 311). Nur beiläufig gesagt, muss shu entweder einen Druckfehler oder einen Irrtum ausdrücken. Im ersten Fall müsste statt shu das Wort ren, „Menschlichkeit“ im Sinne von „Wohlwollen“, stehen. Im zweiten Fall stünde shu für Gegenseitigkeit, Reziprozität oder Goldene Regel. So oder so bleiben Bauers Ausführungen an dieser Stelle freilich problematisch, da weder ren noch shu sich in akzeptabler Weise als Bezeichnungen für Herrscher-spezifische Normen interpretieren lassen Paul 2001). Es genügt freilich, dass Bauer in der Sache letztlich soweit Recht hat, als der klassische Konfuzianismus eben einen humaneren, liberaleren Begriff der Loyalität propagierte.
Bauer gibt dann zwei interessante Beispiele von Selbstdarstellungen im Lichte des neokonfuzianischen Loyalitätskonzepts. Einer der Autoren, Feng Tao [Feng Dao] (882-954), der fünf (!) Dynastien diente, avancierte schließlich zum „Schreckensbild des illoyalen Untertans“ (S. 318-322). Ein anderer, Wen T’ien-hsiang [Wen Tianxiang] (1236-1283), fühlte sich der untergegangenen Song-Dynastie so verpflichtet, dass er sich lieber von den siegreichen Mongolen hinrichten ließ, als eines ihrer vermittelnden Angebote zu akzeptieren (S. 326f.). Feng Dao stellte, scheinbar mit sich zufrieden, fest, und gerade dies musste so empörend wirken: „‚Wenn ich [...] (auf mein Leben) zurückblicke, (so wird mir bewußt), daß ich lange Jahre ein (ansehnliches) Gehalt und (hohe) Stellungen genoß und die Schwierigkeiten und Gefahren der Zeiten immer wieder meisterte, zum Ruhme meiner Ahnen im Himmel und zum Wohlergehen meiner Verwandten auf Erden.’“ (S. 320) Wen Tianxiang schrieb unmittelbar vor seiner Hinrichtung: „‚An Ämtern bekleidete ich das des Armeeführers und das des Reichskanzlers, doch die dynastischen Altäre zu retten und den Erdkreis einer rechtmäßigen Ordnung zuzuführen vermochte ich nicht. [...] das Reich kam in Unehre, und ich selbst wurde als gemeiner Sträfling eingekerkert. Schon lange steht mir nur noch der Tod bevor. Seit dem Augenblick, da ich Gefangenschaft geriet, habe ich den Vorsatz gehegt, meinem Leben ein Ende zu setzen, doch fand ich nie Gelegenheit dazu. Nun also gibt mir der Himmel die Möglichkeit [...]’“ (S. 331).
Es böte sich nun an, auch eine „Selbstverfluchung“ aus der Zeit um 1600 zu zitieren (Bauer, S. 478f.), doch führte dies einfach zu weit.
Wie mehrfach angedeutet, ist es sinnvoller, ausführlicher auf Bauers Darstellung des maoistischen Konzepts der Selbstkritik einzugehen. Sie erscheint gewissermaßen als Präsentation einer ‚letzten’ historischen Konsequenz der langen Geschichte von Kritik und Selbstkritik in China, und sie ist, um es noch einmal zu sagen, auch das beste Beispiel für Bauers gelungenen Versuch, Grundsätzliches und Historisches, Synchronie und Diachronie miteinander zu verbinden.
In den 1920-er Jahren besuchten junge Chinesen der Guomindang und der Kommunistischen Partei Chinas, die damals noch miteinander verbündet waren, eine als Sun-Yatsen-Universität getaufte Einrichtung in Moskau. Dort machten sie mit einem „1925 formulierten ‚Arbeitsleitfaden’“ (Bauer, S. 688) Bekanntschaft, der in erschütternder – wenn man so will, freilich auch obszöner – Weise den Anspruch der kommunistischen Partei(en) auf bedingungslosen Gehorsam ihrer Mitglieder, auf Unterwerfung, ja auf die Aufgabe jeder Individualität artikulierte. Aus Bauers Darstellung geht nicht hervor, wieweit es sich dabei um ein sowjetisches und/oder ein chinesisches Produkt handelte. Einerseits entsprach es aufs Beste Lenins und Stalins Ideen einer rücksichtslosen und uneingeschränkten Diktatur der Partei und Stalins Methoden des Terrors, die „in den Schauprozessen der Jahre 1935 und 1938“ gipfelten, Verfahren, „die nicht zuletzt durch die förmliche Bekenntnisbesessenheit der Angeklagten internationales Aufsehen erregten“ (Bauer, S. 689). Andererseits liest sich der „Leitfaden“ wie eine Übersetzung schlimmster chinesischer Traditionen der Selbstzerstörung in einen kommunistischen Jargon. Besonders wichtig ist es jedenfalls, sich (auch) hier bewusst zu machen, dass die maoistische Perversion der Selbstkritik keinesfalls Ausdruck eines ‚chinesischen Wesens’ war, sondern Reflex einer durch und durch amoralischen totalitären Machtgier, die sich prinzipiell überall finden kann und die sich im Leninismus-Stalinismus fand, bevor sie noch in China üblich wurde – wenn auch durch bestimmte chinesische Traditionen gefördert. Es lohnt sich, aus dem „Leitfaden“ zu zitieren: „‚Die Interessen der Partei sind auch die Interessen des Individuums ... Wir dürfen kein allzu starkes Selbstvertrauen haben. Wir müssen die Psychologie des absoluten Vertrauens in die Partei haben ... Unser Leben und unser Wille dürfen nicht auf individuellen Denkhaltungen und individuellem Willen basieren. In Übereinstimmung mit dem Leben und dem Willen der Partei sollten wir uns absolut kollektivieren und unser Leben und unseren Willen an die Massen anpassen. Es gibt absolut nicht so etwas wie individuelles Leben oder individuellen freien Willen. Wir müssen strikt die Fehler und Irrtümer unserer Kameraden kritisieren und demütig ihre Kritik entgegennehmen. Es gehört nicht zur Einstellung eines Kommunisten, Kritik zu fürchten, sie zurückzuweisen oder seine Kameraden nicht zu kritisieren ... Die Kritik ist ein Instrument, um zu stählernen Kommunisten zu werden.’“ (Bauer, S. 686) Wie ein chinesischer Student der Sun-Yatsen-Universität berichtete, sah die Wahrheit freilich anders aus, und in der Tat lag Sinn und Zweck der „Selbstkritik“ ja gerade nicht im klassisch-konfuzianischen Bemühen, sich zu einer auch auf Selbstachtung bedachten Persönlichkeit zu bilden: „‚Die Selbstkritik jagte jedem größten Schrecken ein. Jeder mußte über seine Familienherkunft, Erfahrungen und Ziele berichten und auch sich selbst kritisieren. Selbst wenn man sich ehrlich selbst kritisiert hatte, gab es immer noch jemanden, der etwas Angreifbares fand und es als kleinbürgerliche Gewohnheit, feudale Ideologie, Heroismusideologie, Individualismus, Egoismus, Institutionalismus, Konservativismus, Verbohrtheit, Rückständigkeit, Gemäßigtheit, usw. bezeichnete. Diese Kritik hielt sich an keine Gesetze. [...] der kritisiert wurde, hatte die Kritik bedingungslos zu akzeptieren. Akzeptierte man die Kritik nicht, so wurde man um so härter angegriffen. Manche weinten, und manche waren sogar so mit den Nerven herunter, daß sie urinierten.’“ (Bauer, S. 689)
Schon 1939 versuchte Liu Shaoqi (1898-1969), der lange Zeit einer der wichtigsten Führer der KPCh neben Mao war, faktisch die Ideen des „Leitfadens“ (auch) aus der chinesischen Tradition heraus zu entwickeln, indem er sich dabei – in sachlich unhaltbarer Form – unter anderem auf frühkonfuzianische Vorstellungen der „Selbstvervollkommnung“ und Selbstprüfung berief. Sein Text „Wie man ein guter Kommunist wird“ verdiente eine ausführliche Analyse. Im Rahmen seiner Untersuchung konnte sie Bauer natürlich nicht leisten.
Der Maoismus erweiterte und verfeinerte die Methoden der Selbstkritik kontinuierlich. Schriftlichkeit, Öffentlichkeit, Gruppenbildungen mit wochenlang fortgesetzten wechselseitigen Anschuldigungen und Geständnissen, die Herrschsucht, Rachsucht und schieren Sadismus bewusst und gezielt in den Dienst des eigenen Machtinteresses stellten, terrorisierten Hunderttausende. Sie wurden auch zu einem Mittel der Lager-Verwaltung und der so genannten Umerziehung. Ein beeindruckendes Beispiel dafür liefert die Autobiographie des tibetischen Lamas Palden Gyatso (1998). Ganze Listen von Kategorien musterhafter Schuldbekenntnisse wurden entwickelt. Sie sollten der eigenen Orientierung – aber natürlich auch der Kontrolle und der Orientierung der Kritiker – dienen und schlossen zum Beispiel folgende Überschriften ein: „(Ich) kritisiere mein kriecherisches Denken bei der Verehrung Amerikas [...] (Ich) streife kriecherisches und verrottetes Denken ab [wobei man gerade mit dieser Devise oder diesem ‚Bekenntnis’ eine kaum je in der Weltgeschichte gesehene Kriecherei erzwang] [...] Ich enthülle meine besonders abstoßende (Lebens)geschichte [...] Ich kritisiere meine Ideologie der ‚tugendsamen Ehefrau und guten Mutter’.“ (Bauer, S. 694)
Zu den bekanntesten und dementsprechend ausführlich auch von Bauer behandelten Dokumenten der Selbstkritik gehören die zahlreichen, immer wieder von ihm geforderten Schuldbekenntnisse des Philosophen Feng Youlan und die Autobiographie des letzten chinesischen Kaisers Pu Yi (1973), die schwerlich als aufrichtig einzustufen sind.
Bedenkenswerter als die erzwungenen Schuldeingeständnisse berühmter Personen dürften freilich die der ‚normalen Menschen’ sein. Lange noch vor der so genannten Kulturrevolution zeigte der maoistische Terror der ‚Selbstkritik’ eine Wirkung, die eine Chinesin über sich festhalten ließ: „‚Ich lebe auf dieser Welt bloß noch wie ein Schaf, ja schlimmer noch als ein Schaf: wie ein Schwein oder ein Hund [...] Und selbst das trifft es noch nicht: Ich fühle mich wie ein Urmensch – ach, nicht wie ein Urmensch: wie ein Insekt aus der Urzeit – ach, nicht einmal so: wie eine biologische Zelle aus der Urzeit – ach, auch nicht so: wie ein winziges Lebewesen ohne Leben!
Ich hasse, ich hasse mich selber! Ich hasse meine Vergangenheit, ich hasse meine Gegenwart, ich hasse meine Zukunft ...’“ (Bauer, S. 713)
Sofern sich eine derartige Äußerung überhaupt einschätzen lässt, dürfte sie ein überzeugender Beleg gelungener Selbstverachtung und Selbstzerstörung sein.
Wie der obige Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis zeigt, thematisiert Bauer neben den Formen aus dem Bereich ‚Kritik bis Selbstkritik’ noch viele andere Arten der autobiographischen Darstellung. Die meisten von ihnen sind jedoch in der ein oder anderen Weise – und sei es nur implizit – auch Auseinandersetzungen mit sich selbst und damit zumindest in Aspekten auch im Spektrum ‚Kritik bis Selbstkritik’ einzuordnen. Das gilt ersichtlich für die autobiographischen Selbstdarstellungen von Einsiedlern, Reformern, Aufrührern und Revolutionären, aber auch für die vieler Frauen und da insbesondere vieler moderner, für die Emanzipation streitender Frauen. Nach Erscheinen von Bauers Werk wurden zahlreiche autobiographische Texte veröffentlicht, mit denen Erfahrungen der ‚Kulturrevolution’ verarbeitet werden (wie Peking-Menschen von Zhang Xinxin und Sang Ye 1987) oder die einem globalen Gefühl zeitgemäßer Jugendlichkeit Ausdruck geben sollen (Wei Hui 2001). Der äußeren Form nach sind es oft Kurzgeschichten und Romane. Sie alle dürfen auch als Versuche verstanden werden, Individualität und mit ihr Selbstbestimmung und schließlich Selbstachtung (zurück) zu gewinnen.
Im Übrigen erlaubt es das ausführliche Register des Buches, es auch als Nachschlagewerk zu benutzen. Dass seine zahlreichen Übersetzungen es zudem als Anthologie verwendbar machen, sagte ich bereits. Und schließlich bietet das umfassende Literaturverzeichnis mehr als hinreichende Anregungen für weiterführende Lektüren.
Literaturhinweise
Ich nenne vier eigene Arbeiten, weil sie die ausführlichsten deutschsprachigen Beiträge zum Thema ‚Kritik in China’ sein dürften.
Gyatso, Palden: Ich, Palden Gyatso, Mönch aus Tibet, Bergisch-Gladbach, Gustav Lübbe 1998
Liu, Schao-tschi: Wie man ein guter Kommunist wird, Peking, Verlag für fremdsprachige Literatur 1965
Liu, Shao-ch’i: „How to be a good Communist“. In: Collected Works
of Liu Shao-Ch’I before 1944, Hongkong, Union Research Institute 1968, S.
151-218
Paul, Gregor: „Die Rolle des
Arguments in der Menschenrechtsdebatte um China“. Mitteilungsblatt [der DCG]
1/2002, S. 41-52
Paul, Gregor: „Eine gültige Theorie der Kritik: Klassisch-gelehrte Ansätze in chinesischen Texten“. In: Roetz, Heiner, u. a. (Hg.), 2003 oder 2004.
Paul, Gregor: Die Aktualität der klassischen chinesischen Philosophie, München, iudicium 1987
Paul, Gregor: Konfuzius, Freiburg, Herder 2001
Pu Yi: Ich war Kaiser von China. Vom Himmelssohn zum neuen Menschen, München, Hanser 1973
Riegel, Klaus-Georg: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus, Graz, Styria 1985
Schwarz, Ernst: Die Weisheit des alten China: Mythos – Religion – Philosophie – Politik, München, Kösel 1994
Teiwes, Frederick C.: Politics and Purges in China, Dawson, Sharpe
1979
Trauzettel, Rolf: „Denken die Chinesen anders? Komparatistische Thesen zur chinesischen Philosophiegeschichte”, in: Saeculum 41 (1990), 79-99 (Weiterhin erschienen in: Wang Shuren: Einführung in die chinesische Weisheit, erläutert und mit Anhängen versehen von Rolf Trauzettel, übersetzt von Franziska Ho und Corinna Beckmann-Keutner, Hagen 1993.)
Wei
Hui: Shanghai-Baby, Ullstein 2001
Zhang Xinxin und Sang Ye: Peking-Menschen [Beijinren], 2. Aufl. Köln, Diederichs 1987