Die Rolle des Arguments in der Menschenrechtsdebatte mit und über China

Gregor Paul, Universität Karlsruhe

 

0 Die Problematik

Mit dem Wort „Argument“ meine ich gültige Argumente. Gültigkeit ist klar von Akzeptanz zu unterscheiden. Während Gültigkeit eine Funktion insbesondere logischer Konsistenz und allgemeinmenschlicher Erfahrung ist, hängt die Akzeptanz eines Arguments auch von Faktoren wie dessen Vertrautheit, der Interesse und Neigung des Angesprochenen und – faktisch besonders relevant – der Glaubwürdigkeit des Argumentierenden ab.

Dass Argumente „notorisch schwach“ seien, besagt vor allem Folgendes. Wir geben ihnen, wie es bezeichnender Weise heißt, oft selbst dann nicht nach, wenn wir ihre Gültigkeit einsehen. So reden wir ja auch von der Kluft zwischen Einsicht und Tat oder Wissen und Handeln.

Faust I liefert dafür ein beeindruckendes Beispiel. Faust entscheidet sich 'gegen jede Vernunft' und trotz voraussehbarer tragischer Konsequenz, seiner Gier 'freien Lauf zu lassen'.

Dabei ist sich Faust selbst seines Verhaltens bewusst:

 

"Sie, ihren [Margaretes] Frieden mußt ich untergraben!

Du, Hölle, mußtest dieses Opfer haben!

Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen!

Was muß geschehn, mag's gleich geschehn!

Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen

Und sie mit mir zugrunde gehn!" (V. 23360ff.)

 

Faust ‚rennt offenen Auges ins Verderben’. Viele so genannte Pflicht-Neigungs-Konflikte folgen demselben Muster. Dies festzustellen, muss nicht heißen, das unhaltbare Konzept vom Menschen als geistig-sinnlichem Wesen zu teilen.

Fällt es uns schon schwer, im Alltag, in der Auseinandersetzung mit Verwandten, im Streit mit Freunden und Kollegen, im Gespräch unter vier Augen einem gültigen Argument nachzugeben, so fällt dies Kulturen, Staaten, Regierungen, Kirchen und ihren Repräsentanten noch sehr viel schwerer, sind dabei doch zahlreiche, mitunter stark konfligierende Interessen im Spiel. Die internationale und interkulturelle Akzeptanz gültiger Argumente ist deshalb gering.

In der ‚Menschenrechtsdebatte’ kann u. a. zwischen (a) akademischen, (b) juristischen, (c) journalistischen oder massenmedialen und (d) politischen Diskurs unterschieden werden. Dabei gibt es Überschneidungen, und einzelne Diskurse wie der akademische Diskurs gliedern sich in methodisch klar trennbare Bereiche. Doch hängt in der Menschenrechtsdebatte sachlich wie faktisch so gut wie alles mit allem zusammen. Dies führt dazu, dass viele, die sich an dieser Debatte beteiligen, Untersuchungen, die sich auf Fragen der Begründbarkeit und Gültigkeit beschränken, als defizient, ja als unsachgemäß auffassen. Sie wünschen sich Konkretisierungen und Kontextualisierungen. So unglücklich, ja irreführend die Ausdrücke sind und so unberechtigt die Kritik an Diskussionen um die Begründbarkeit und Gültigkeit von Menschenrechten ist, so berechtigt und verständlich ist freilich das Anliegen, zu erfahren, ob ein Menschenrechtsanspruch in einer bestimmten spezifischen Lage überhaupt akzeptabel, realisierbar und realisierenswert ist, und was denn gegebenenfalls zu tun sei, um ihn in die Tat umzusetzen, und zwar so, dass damit Leid gemindert – und nicht etwa noch vergrößert – wird.

Ich lege im Folgenden besonderes Gewicht auf die philosophischen und politischen Aspekte der Menschenrechtsdebatte um China, beziehe aber auch juristische, sozio-politische, ökonomische und psychologische Aspekte ein.

Im Übrigen gehe ich vor allem folgenden Fragen nach:

 

1 Vorwürfe gegen die Menschenrechtspolitik ‚chinesischer’ Staaten und vor allem der VR China

Kritiker werfen chinesischer Menschenrechtspolitik vor allem zweierlei vor. Erstens mangelnde Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit. Anders gesagt, missbilligen sie Ein-Parteien-System und Ein-Parteien-Regime bzw. die totalitären, autokratischen und paternalistischen Züge der Herrschaft. Sie geben damit der Überzeugung Ausdruck, dass insbesondere die Integrität der Menschenwürde, das Recht auf Leben und das Recht auf persönliche Freiheit nur auf demokratischem und rechtsstaatlichem Weg zu verwirklichen seien. Vorwürfe wir die der (ungemessenen) Anwendung der Todesstrafe, der Folter, der willkürlichen Verhaftung und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit zielen dabei auf spezifische Fälle der Verletzung menschlicher Würde und Freiheit.

Die skizzierte Kritik richtet sich vor allem gegen die VR China. Doch bezog und bezieht sie im ein oder anderen Punkt auch Staaten wie Singapur, Süd-Korea und Taiwan in die Kritik ein. Allgemein gesagt, sollen Herrschaft und Recht seien dort inhuman oder doch undemokratisch sein.

Der VR China wirft man zweitens vor, dass sie das Recht auf Religionsfreiheit verletze und ethnische Minderheiten diskriminiere. Als Beispiel nennt man insbesondere den Umgang mit der Falun Gong. Aber auch die Tibetpolitik und die Politik gegenüber Muslimen in Westchina werden bemängelt. Die USA behaupten etwa, dass die VR China das Vorgehen gegen den Terrorismus als Vorwand und Entschuldigung nutze, um die religiöse Freiheit zu unterdrücken und die Rechte ethnischer Minderheiten einzuschränken[i].

 

2 Prüfung der Gültigkeit dieser Vorwürfe

2.1 Kriterien der Gültigkeit

All diese Vorwürfe sind dann gültig, wenn

(a) sie in sich konsistent sind,

(b) die mit ihnen explizit oder implizit angesprochenen Menschenrechte allgemeingültige Normen abgeben,

(c) die mit ihnen artikulierten Tatsachenbehauptungen zutreffen, und wenn

(d) zu den kritisierten Verstößen realisierbare humanere Alternativen bestanden oder bestehen.

Will man die Vorwürfe zurückweisen oder widerlegen, so muss man also zeigen, dass mindestens eines der vier Kriterien verletzt ist. Von der Problematik pragmatischer Inkonsistenz abgesehen, dürfte es freilich leicht möglich sein, die Vorwürfe in widerspruchsfreier und schlüssiger Form zu formulieren. Da pragmatische Inkonsistenz nicht die Vorwürfe selbst zu kennzeichnen braucht, sondern vielmehr ein Merkmal der Unglaubwürdigkeit der entsprechenden Kritik ausmacht, gehe ich auf sie ein, wenn ich über die Relevanz der Glaubwürdigkeit der Kritik an Menschenrechtsverletzungen rede. Außerdem dürfte das Kriterium logischer Konsistenz das belangloseste und uninteressanteste sein.

2.2 Allgemeingültigkeit, Kulturalismus und Recht auf kulturelle Identität

Will man die Allgemeingültigkeit bestimmter Menschenrechte bestreiten, so muss man zeigen, dass sie Funktion spezifischer, unterschiedlicher Faktoren sind. Umgangssprachlich gesagt, muss man sie „relativieren“. Das ist möglich, wenn man sie etwa als unabänderliche Konsequenz distinktiver kultureller Besonderheiten ausweisen kann. Fehlt der Nachweis der Unabänderlichkeit oder versucht man lediglich zu zeigen, dass Menschenrechtspolitik eine Funktion historischer und etwa sozio-ökonomischer Entwicklung sei, dann vermag man nur vorläufige Abweichungen von den allgemeingültigen Rechten aufzuweisen. Keine Widerlegung der Allgemeingültigkeit wäre die Angabe angeblich spezifischer Gegenbeispiele.  Sie beruhte auf einem so genannten naturalistischen Fehlschluss, einem Schluss vom Sein aufs Sollen.

Vor allem seit etwa 1990 versuchen verschiedene Seiten zu zeigen, dass zumindest bestimmte Menschenrechte tatsächlich nicht allgemeingültig, sondern vielmehr durch kulturelle Besonderheiten bedingte spezifische, distinktive Normen seien. Ich erinnere nur an den Streit um so genannte asiatische Werte. Generell gesagt, zielten und zielen entsprechende Behauptungen vor allem auf vier Punkte: Chinesischer Tradition zufolge seien Pflichten mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als Rechte[ii]. Autoritärere Herrschaftsformen seien der, wie es dann heißt, ‚westlichen’ Demokratie und ihren Implikationen, ihrem ‚Individualismus’ und ‚Materialismus’, vorzuziehen. Dementsprechend sei auch ein strengeres Strafsystem, als es im ‚Westen’ üblich ist, wünschenswert. Im Übrigen aber gebe es ein Menschenrecht auf kulturelle Identität.

Gerade die VR China und deren Vertreter argumentieren jedoch relativ selten kulturalistisch. Das taten und tun eher Vertreter Singapurs, Taiwans, Koreas und westliche Teilnehmer am Menschenrechtsdiskurs. Unter Berufung auf Menzius stellte der einflussreiche taiwanesische Historiker und Pädagoge Huang Chun-chieh im Jahr 2001 fest, dass anders, „als westliche Denker es sehen wollen, Politik kein Bereich sei, in dem die Menschen miteinander verhandeln, um ihre Interessenkonflikte zu lösen, sondern ein Geschäft, eine moralische Gemeinschaft herzustellen, die ihre Mitglieder in Richtung auf volle Menschlichkeit hin kultiviert, bereichert und erzieht.“[iii] In kaum verhohlener Weise drückt Huang damit die unter den – überdies oft missionarisch gesinnten – so genannten modernen Konfuzianern der Gegenwart verbreitete Überzeugung aus, dass es eine in der konfuzianischen Tradition verankerte Alternative zum ‚westlichen Individualismus’ und ‚Materialismus’[iv] und damit zu ‚westlicher Demokratie’ und ‚westlichem Menschenrechtskonzept’ gebe. Im Übrigen erinnere ich an Klaus Kinkels zumindest irreführende Redeweise von einem „spezifisch konfuzianischen Menschenrechtsverständnis“ und an Helmut Schmidts Übernahme der von Lee Kwan Yu gegebenen Interpretationen traditioneller chinesischer oder konfuzianischer Pflicht-Ethik.[v]

Schmidt wiederholt sie ein weiteres Mal in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2002[vi]. Ich zitiere und kritisiere sie Schritt für Schritt. Schmidt bemerkt mit  Blick auf die gegenwärtige Lage:

„Ich zweifle nicht, daß China auf dem richtigen Weg ist. Aber der Konfuzianismus bedeutete [sc. uneingeschränkte] Pflichterfüllung. Man mußte den Befehlen von oben gehorchen.“

Letzteres jedoch ist einfach falsch. Gebraucht man Wörter oder Begriffe wie ‚Konfuzianismus’, so muss man nämlich zwischen verschiedenen Klassen (Gruppen) von Texten, Lehren, Schulen und Traditionen unterscheiden. Denn einzelne durch diese Wörter bezeichnete Richtungen differieren bereits auf fundamentaler oder elementarer Ebene. Sie schließen sich wechselseitig aus. Und dies gilt insbesondere für ihre ethischen und politischen Doktrinen.
Lunyu und noch emphatischer Menzius und Xunzi betonen explizit, dass man „Befehlen von oben" nicht einfach gehorchen dürfe. Sie unterstreichen, dass man ihnen nur dann folgen sollte oder folgen „müsste", wenn sie den mit Konzepten wie dao und ren artikulierten moralischen Normen nicht widersprächen. Im Xunzi heißt es mehrfach, dass man eher dem dao als dem „Fürst" oder „Vater" folgen solle. Außerdem betont der Text wiederholt, dass man sich in seinem Verhalten weder an Ideen des Profits, des Ruhmes, der öffentlichen Kritik noch an Interessen von Freunden oder Verwandten, sondern letztlich eben am dao zu orientieren habe. Dao und/oder ren stehen dabei für moralische Prinzipien, die dem Menzius zufolge vom „Himmel“ (tian) gegeben und die dem Xunzi zufolge Schöpfungen (Erfindungen) von Kulturheroen, also selbst gegebene Normen sind.

Sehr allgemein gesagt, bestehen hier frappierende Übereinstimmungen mit Kants Konzept moralischer Autonomie und Kants Ansätzen zu einer Pflicht-Ethik, die ja ebenfalls keine Gehorsams-Ethik ist. Auch nach klassisch-konfuzianischer Auffassung besteht Moralität darin, letztlich allgemeingültigen moralischen Normen und nichts sonst – und insbesondere nicht irgendwelchen Befehlen oder Neigungen – zu folgen. Wird man aufgefordert, etwas zu tun, was diesen Normen zuwiderläuft und was schließlich gar –  im Sinne des common sense – unmenschlich ist, so sollte man, versagen andere Mittel,  Widerstand und womöglich gar gewaltsamen Widerstand leisten. Das kann im Extremfall dazu führen, im Namen der allgemeingültigen moralischen Norm – des dao oder ren – sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.
Dies ist insbesondere dann gefordert, wenn man andernfalls seine Selbstachtung – wir würden sagen, seine Würde – verlöre.
In der Tat kann also nach klassisch-konfuzianischer Auffassung keine Rede davon sein, dass man „Befehlen von oben gehorchen müsse“. Und so ist aus dieser Perspektive auch Schmidts Folgerung falsch, dass die [klassisch-]konfuzianische Ethik „nicht ganz [unseren] Formen persönlicher Verantwortung entspricht".
Irrig ist dann konsequenter Weise auch Schmidts Behauptung, dass es im „Konfuzianismus keine Freiheit des Individuums " gab. Sofern mit Freiheit moralische Autonomie in dem Sinn gemeint ist, dass der Mensch in moralisch relevanten Entscheidungen letztlich allein allgemeingültigen moralischen Prinzipien – die er sich in gewissem Sinn sogar selbst gegeben hat – und nichts sonst verpflichtet sei, so ist das Gegenteil von Schmidts Einschätzung richtig. Historisch gesehen, gibt es eine Fülle von Beispielen für entsprechende Entscheidungen und Handlungen von ‚Konfuzianern’.
Zu Schmidts Gunsten ließe sich anführen, dass er von grundsätzlich anderen Formen und Schulen des so genannten Konfuzianismus spricht. Es ließe sich vielleicht sagen, dass er sich auf neokonfuzianische Varianten der lixue und in der Folge Zhu Xis (1130-1200) bezieht. Dann aber sollte man ergänzen, dass diese Richtungen in der Geschichte der Philosophie in China, also von chinesischen Philosophen selbst, schärfer kritisiert wurden, als es fast jeder ‚Westler’ wagen würde. Dai Zhen (1723-77) warf dieser Richtung vor, mit ihrem Konzept des li (des Prinzips) Mord zu legitimieren, ein sachlich berechtigter Vorwurf. Schmidt bezöge sich dann also auf die Formen ‚konfuzianischer’ Ethik und politischer Theorie, die in ontologischer, erkenntnistheoretischer und praktischer Hinsicht das Schlechteste bieten, was ‚konfuzianische’ Philosophie je formulierte. Dies wäre besonders in folgender Hinsicht problematisch. (1) Er suggerierte, dass die chinesische Philosophie nichts Besseres zu bieten habe. Aber wir berufen uns ja auch nicht auf Aristoteles' Legitimation der Sklaverei, wenn wir über theoretische und traditionelle Optionen der Humanität und ihrer Begründung reden. (2) Schmidt insinuierte weiter, dass es sozusagen einen fundamentalen Unterschied gebe, der es chinesischen Politik prinzipiell viel schwerer mache, ähnliche Konzepte zu entwickeln und ähnlichen Konzepten zu folgen, als wir. Er suggerierte damit auch, dass wir eine ‚Andersartigkeit’ als gültig ansehen sollten, die es gar nicht gibt. (3) Er erweckte den Eindruck, dass es akzeptabel sei, wenn sich chinesische Politiker wie Lee Kwan Yu auf die lixue und nicht auf theoretisch bessere und humanere chinesische Ethiken beriefen. (4) Nolens volens lieferte er eine Art Rechtfertigung für historisch eher autoritär ausgerichtete chinesische Traditionen.
Dem könnte Schmidt entgegen halten, dass er sich überhaupt nicht auf irgendwelche Theorien und Philosophien beziehe bzw. beziehen wolle. Vielmehr meine er mit „Konfuzianismus" einfach Jahrhunderte alte sozio-politische Traditionen, eine Orthopraxis, die Macht des Faktischen gewisser Maßen. Er gebrauche den Ausdruck schlichtweg als Bezeichnung für alltägliches Verhalten, wie es eben von chinesischen Regierungen, Herrschenden, Mächtigen, Familienoberhäuptern, Grundschullehren, der kommunistischen Partei usf. auch immer wieder gefordert worden sei und gefordert werde. Schließlich gehe es um die sozio-politische Wirklichkeit und nicht um irgendwelche Theorien, die kaum Beachtung fänden oder gefunden hätten. Schon gar nicht gehe es um irgendwelche Wörter und Vokabeln. Er, Schmidt, könne das Ganze auch anders nennen. Aber auch diese Position wäre extrem problematisch. (1) Sie vermittelte nun einmal ein unzutreffendes Bild vom so genannten Konfuzianismus. (2) Sie liefe auf die Behauptung hinaus, dass es in China – anders als ‚im Westen’ – keine irgend wirkungsmächtigen Theorien der Humanität etc. gegeben habe, nichts, an das Entwicklungen hin zu Menschlichkeit und Demokratie in argumentativer Weise anknüpfen könnten. Erneut würden Unterschiede suggeriert, die schlichtweg nicht bestehen. (3) Schmidt selbst würde implizit behaupten, dass Ethiken und politische Theorien für die Geschichte und Entwicklung von Ethik und Politik de facto völlig belanglos seien – eine Position, die er wohl kaum vertritt.
Zusammenfassend gesagt, begünstigt Schmidt mit seinen sehr einflussreichen Äußerungen verbreitete Vorurteile über chinesische Philosophie und Tradition und erschwert die dringend erforderliche argumentative, an Kriterien sachlicher Gültigkeit orientierte Diskussion über Menschenrechte.

Soweit es um die Gültigkeit der Argumente geht, die im Streit um kulturspezifische Menschenrechte, um asiatische Werte oder um ein Menschenrecht auf kulturelle Identität ins Spiel gebracht wurden und werden, ist die Auseinandersetzung m. E. so gut wie abgeschlossen. Es dürften kaum neue Argumente gefunden werden. Und der mit diesen Stichworten angesprochene Kulturalismus in Menschenrechtsfragen dürfte so gut wie sicher widerlegt sein. Dessen ungeachtet stelle ich die wichtigsten Argumente noch einmal zusammen, denn sie sind nicht bekannt genug. Vor allem aber ist der Kulturalismus – gewiss auch deshalb – ein großes Problem geblieben. Wie die Zitate belegen sollen, ist er nach wie vor ein beliebter Gegenstand akademischer und politischer Neigung und beliebtes Thema der Massenmedien. Außerdem wurde und wird er – neben der Auseinandersetzung mit 'dem Islam' – eben vorzugsweise in Diskursen um chinesische Kultur und Politik artikuliert. Die wichtigsten Argumente gegen jeden Kulturalismus und Traditionalismus in der Menschenrechtsfrage lauten:

Eine kritische Analyse von Kulturen und Kulturbegriffen liefert weitere Argumente gegen Traditionalismus und den Anspruch auf ein unbedingtes Recht auf kulturelle Identität.

Das letzte Beispiel ist besonders wichtig. Es kommt immer wieder vor, dass der fragwürdige Versuch, die eigene Kultur in Form einer Auszeichnung radikal gegen andere Kulturen abzugrenzen, zu einer mehr oder weniger willkürlichen Betonung eines hochspezifischen Merkmals führt. So trägt eben der gläubige Mann einen Bart, während der ungläubige und deshalb minderwertige Mann an seiner Bartlosigkeit zu erkennen ist. Aus der Sicht mancher Japaner sind Koreaner (stinkende) Knoblauchfresser. Aus der Sicht mancher Deutschen galt oder gilt dies für Jugoslawen. Rein logisch gesehen, ist es stets möglich, ein spezifisches Merkmal zu finden, dass radikale Abgrenzung erlaubt, mag es objektiv betrachtet noch so unbedeutend sein. Deshalb ist jede Angabe (angeblich relevanter) kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erläutern und zu begründen. Warum hält man einen Unterschied oder eine Gemeinsamkeit für wichtig? In welcher Hinsicht? Und ist die Einschätzung gut begründet? Um es erneut an einem Beispiel zu illustrieren: ist es letztendlich zu rechtfertigen, dass man Menschen einer Kultur gering schätzt und sich etwas besseres dünkt, weil diese Menschen Nudelsuppen schlürfen oder weil die Männer keinen Bart tragen?

 

2.3 Allgemeingültigkeit und Historizität

Zu den Argumenten, die die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten insofern infrage zu stellen scheinen, als sie die Beachtung dieser Rechte von bestimmten historischen Entwicklungen abhängig machen, gehört zunächst das orthodox marxistisch-maoistische Argument des „Hauptwiderspruchs“[vii] und seiner Beseitigung. Eine zeitlang spielte es in der VR eine Rolle. Seine theoretische Schwäche ist jedoch so groß, dass sich eine Auseinandersetzung nur soweit lohnt, als das Argument (auch) in theoretisch unprätentiöser Form vorgebracht wird: eben als Hinweis auf die Abhängigkeit eines bestimmten Stadiums der Menschenrechtsentwicklung von bestimmten sozio-ökonomischen Bedingungen. Vor allem die Beschränkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die Einengung persönlicher Freiheit sollen so gerechtfertigt werden. Im Einzelnen geht es dabei um das Machtmonopol der Partei, aber auch um Probleme wie die Anwendung der Todesstrafe, die Beseitigung der Korruption, um Plan- und Marktwirtschaft, ja gar um Umweltverschmutzung. Außerdem rechtfertigt man auf diese Weise spezifische Hierarchisierungen von Menschenrechten. So unterstrich Li Peng Anfang des Jahres 2002 erneut die Entscheidung der VR für die Priorität des „Rechtes des Volkes auf Grundversorgung und Entwicklung“[viii].

Und schließlich heißt es immer wieder, dass die Menschenrechtslage in der Geschichte Chinas noch nie so gut gewesen sei. Zwar gebe es noch immer Menschenrechtsverletzungen, doch tue man – den sozio-ökonomischen Bedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten entsprechend – alles, um sie weiter einzudämmen und schließlich ganz auszumerzen.

Ich erinnere noch einmal daran, dass solche Argumente, genau betrachtet, die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten gar nicht infrage stellen können. Sind sie stichhaltig, so zeigen sie nur, dass eine bestimmte aktuelle Menschenrechtslage hinter dem Anspruch bestimmter Menschenrechte auf volle Akzeptanz bzw. uneingeschränkte Anerkennung zurückbleiben muss oder zurückbleiben sollte.

Ihre Stichhaltigkeit aber hängt vor allem von ihrer empirischen Trefflichkeit ab.

 

2.4 Trefflichkeit der Tatsachenbehauptungen

Vor allem die VR bzw. Vertreter der VR versuchen, Vorwürfe zu entkräften, indem sie sie einfach als empirisch unzutreffend erweisen. Ist meine Kritik an Helmut Schmidts Äußerungen gültig, so zeigt schon sie, dass selbst eine kulturalistische Argumentation an falschen Tatsachenbehauptungen scheitern kann. Solche Fehler wiederum sind häufig Ausdruck unzureichender Sachkenntnis bzw. unzureichender Informiertheit. So kann man, will man einen Kritiker in aller Schärfe zurückweisen, bequem ad hominem argumentieren und ihn als Ignoranten abtun. Im Einzelnen bemüht sich die VR China vor allem darum, Vorwürfe der Folter, der Verletzung der Religionsfreiheit und der Diskriminierung ethnischer Minderheiten als faktisch unzutreffend auszuweisen. Außerdem geht es ihr darum, plausibel zu machen, dass die von ihr betriebene Menschenrechtspolitik das Optimum dessen sei, was das Stadium der aktuellen politischen und sozio-ökonomischen Entwicklung der VR erlaube oder verlange. Und zwar zeige dies alle relevante historische Erfahrung. Anders gesagt, versucht die VR ihre Menschenrechtspolitik als optimale Funktion einschlägiger empirischer Theorie zu rechtfertigen.

Leider ist  oft kaum festzustellen, wieweit etwa ein Vorwurf der Folter oder ein Vorwurf der Verletzung der Religionsfreiheit zutreffen[ix]. Einmal fehlt die Möglichkeit eigener, unabhängiger Prüfung. Zweitens sind viele Vorwürfe unglaubwürdig. Drittens sind Fragen wie die der Religionsfreiheit weithin von einschlägigen, durchaus divergierenden Theorien abhängig. Dazu kommt, dass mittlerweile selbst NGOs wie Human Rights Watch sich nicht auf unparteiische Wiedergaben der relevanten Fakten beschränken, sondern höchst verschwommene statements zu allgemeinen, grundsätzlichen Fragen abgeben. So ist insbesondere Human Rights Watch’ Internet-Veröffentlichung zu Falun Gong höchst problematisch.

Im Gegensatz zu den USA, Human Rights Watch und anderen ‚westlichen’ Kritikern charakterisieren offizielle chinesische Stellen Falun Gong immer wieder als menschenrechtswidrige, menschenrechtsgefährdende und legitimer Weise verbotene Organisation. Falun Gong habe keinerlei Anspruch auf den Genuss der in China im Übrigen durchaus gesicherten Religionsfreiheit. Dabei versuchen die chinesischen Stellen ihre Behauptungen durch eine Fülle von detaillierten Beschreibungen von Einzelfällen zu belegen.[x]

Sicher dürfte nur soviel sein: Die VR geht gegen manche Falun-Gong-Anhänger in inakzeptabler Weise vor. Ähnlich wie im Umgang mit Gewaltverbrechern verletzen Strafrecht, Strafvollzug und insbesondere Einweisung in Lager und Form der Lagerhaft auch in diesen Fällen Menschenwürde, Recht auf Freiheit und rechtsstaatliche Normen[xi]. Andererseits ist es fraglich, ob die Organisation Falun-Gong Religionsfreiheit beanspruchen darf. Nach offiziöser chinesischer Auffassung „manipuliert sie ihre Anhänger, presst ihnen Unsummen von Geld ab, schürt absichtlich Unruhe und vernichtet Menschenleben“[xii]Ohne der grundsätzlichen Frage der Glaubwürdigkeit vorzugreifen, gebe ich zu bedenken, ob dann nicht auch andere Gruppen, die sich als religiöse Gemeinschaften verstehen, entsprechende Freiheiten erhalten müssten. Nach offiziöser chinesischer Auffassung ist Falun Gong z. B. Aum Shinrikyo und den Branch Davidians vergleichbar. [xiii] Und schließlich sollte man sich bewusst machen, dass das Recht auf freie Ausübung der Religion faktisch längst überall eingeschränkt ist, ja zwangsläufig eingeschränkt sein muss; es sei denn, man akzeptiere Theokratien und religiös begründete Gewalt und Grausamkeit.

2.5 Das Prinzip des kleineren Übels, Hierarchisierung und Realisierbarkeit

Wie gesagt, sind Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen nur dann gültig, wenn es zu diesen Vergehen keine besseren und insbesondere keine humaneren realisierbaren Alternativen gab und gibt. Damit spreche ich ein besonders schwierige Frage an. Oft hat man es in der Wirklichkeit nämlich mit einer Klasse von Problemen, Entscheidungen und Argumenten zu tun, einem komplizierten Komplex der Empirie und empirischen Argumentation, der Informationslücken, unvorsehbare Entwicklungen, Umsetzungsschwierigkeiten und schwer lösbare Fragen der Gewichtung einschließt. Wie kann und sie sollte das chinesische Lagersystem abgeschafft werden? Wie schnell sollte oder könnte es ‚gehen’? Welche Folgen ergäben sich bei welchen Maßnahmen? Wie sähen im heutigen China realisierbare Alternativen aus? Ich will mit diesen Fragen weder etwas entschuldigen noch rechtfertigen. Ich betone ausdrücklich, dass es mir nur um ein einfaches Bespiel der angesprochenen argumentativen Problematik geht.

2.6 Juristische Argumente. Der Vorwurf, staatliche Souveränität bzw. das Selbstbestimmungsrecht Chinas zu verletzen.

Auch juristische Argumente können Tatsachenbehauptungen sein. Das gilt insbesondere für das Argument, dass eine bestimmte Form der Kritik das Recht auf Selbstbestimmung der Völker verletze. So heißt es in einer Verlautbarung des „Informationsbüros das Staatsrates der Volksrepublik“, dass die USA aufhören sollten, sich „in die inneren Angelegenheiten anderer einzumischen, indem sie die Menschenrechtsfrage ausschlachteten“. An anderer Stelle wird ein Sprecher des Außenministeriums mit den Worten wiedergegeben, dass die USA die „so genannte Menschenrechtsfrage“ als „Vorwand“ für „innere Einmischung“ nutzten[xiv]. Mit der Verlautbarung reagierte die Volksrepublik auf eine Veröffentlichung des amerikanischen State Departments, den Jahresbericht zur Menschenrechtssituation in China[xv], der schon als solcher als unberechtigte Einmischung in Interna angesehen wurde.

Die Gültigkeit solcher Einwände ist freilich gerade in schwerwiegenden Fällen fraglich. Denn allgemeingültige ethische Normen sind positivem Recht prinzipiell übergeordnet. Schwerwiegende Verstöße gegen Menschenrechte sind Verletzungen ethischer Gebote, die – eben aus moralischen Gründen – auch dann kritisiert werden dürfen, wenn dies formaljuristisch als Einmischung in innere Angelegenheiten bezeichnet werden kann. Entscheidend ist ohnehin, ob die Kritik zutrifft oder nicht. Die Gültigkeit oder Ungültigkeit und die damit verbundene sachliche und humane Relevanz der Kritik bleiben von jeder Einmischung gänzlich unberührt. Gemindert wird freilich die Akzeptanz.

 

3 Die Problematik der Glaubwürdigkeit

Eines der größten Probleme der Akzeptanz ist das Problem der Glaubwürdigkeit. Die VR begegnet offizieller und insbesondere staatlicher Kritik sehr häufig mit dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit. Dem Kritiker, so heißt es, fehle zur Kritik jede moralische Legitimation. Oder er sei inkompetent, ignorant. Es fehle ihm jede sachliche Legitimation und seinen Behauptungen dürfe deshalb von vornherein kaum Glauben geschenkt werden. Jemand die moralische Legitimation zur Kritik abzusprechen, ist freilich prinzipiell kein gültiges Argument. Denn diese Kritik – der Vorwurf der Folter z. B. – kann auch dann zutreffen, wenn sie der übelste Verbrecher und Heuchler äußert. Nichtsdestoweniger ist der Vorwurf moralischer Unglaubwürdigkeit mindestens so wirksam wie der sachlicher Inkompetenz bzw. sachlicher Unglaubwürdigkeit. Im Allgemeinen verhindert er nämlich, dass die Kritik bzw. die Trefflichkeit der Kritik, die Sache selbst, überhaupt weiter zur Sprache kommen. Statt zuzugeben, dass ein Vorwurf berechtigt ist und politische Veränderungen verlangt, geht es nur noch um die moralische Integrität der am Diskurs Beteiligten. Die Auseinandersetzung erschöpft sich schließlich ganz einfach in wechselseitigen Anklagen, ohne – um dies noch einmal zu betonen – der Sache selbst Interesse zuzuwenden.

So wirft die VR China vor allem den USA immer wieder doppelte Standards, doppelte Moral vor. Die zitierte Verlautbarung z. B. spricht von „den doppelten Standards und dem Unilateralismus“, den die USA in „Menschenrechtsfragen“ zeigen. Außerdem bezeichnet sie die amerikanische Menschenrechtspolitik als „Heuchelei“[xvi].

Sie betont dabei nachdrücklich, dass die USA selbst täten, was sie anderen vorwürfen. Insbesondere heißt es, dass die USA die Todesstrafe anwendeten, dass sie seit 1973 99 Unschuldige hingerichtet hätten, die Folter einsetzten, der größte Waffenproduzent und Waffenlieferant der Welt seien, sogar Folterinstrumente exportierten, die im Lande selbst verboten seien, und Frauen und Schwarze in krass menschenrechtwidriger Weise benachteiligten.

Besonders interessant ist, dass die Verlautbarung den USA auch Unterdrückung der Meinungsfreiheit vorwirft. Sie tut dies, indem sie die Agance France-Presse vom 21. Februar 2002 zitiert. Danach habe das Internationale Institut für Journalismus festgestellt, „dass die Weise, in der die US-Regierung während des Afghanistan-Krieges mit den Medien umging und dass ihr Versuch, die Meinungsfreiheit der unabhängigen Medien zu unterdrücken, ‚das Erstaunlichste [seiner Art] im Jahr 2001’ war.“[xvii]

Ein weiteres - oft als Selektivität bezeichnetes - Moment moralischer Unglaubwürdigkeit besteht darin, gegen Menschenrechtsverletzungen im Staat A vorzugehen, ohne dieselben Verstöße im Staat B zu ahnden. So wirft nicht nur die Volksrepublik den USA vor, israelische bzw. jüdische Menschenrechtsverstöße zu dulden, wohingegen arabisch-muslimische Verstöße scharf kritisiert würden.

Moralisch unglaubwürdig ist schließlich auch die Instrumentalisierung der Menschenrechtsfrage. Dem Kritiker geht es in Wirklichkeit gar nicht um Menschenrechte, sondern etwa darum, innenpolitische Vorteile zu erringen. Er entpuppt sich (erneut) als Heuchler.

Ich verweise auf die bereits angeführten einschlägigen Äußerungen aus der Verlautbarung.

 

4 Die Ohnmacht der Argumente

Gültige Argumente spielen im Menschenrechtsdiskurs um China also nur eine geringe Rolle. Dies verhindern nicht nur solch bekannte Faktoren wie die große Komplexität und Divergenz der in den Diskurs eingehenden konfligierenden Interessen, die Versuchungen der Macht, totalitäre Herrschaftsformen, staatliche Propaganda, Indoktrination und Gleichschaltung in Systemen mit totalitären Zügen, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, fragwürdige Ideologien, Philosophien und Religionen – wie etwa die Ethik der lixue – wirtschaftliches Gewinnstreben, lange, zu faktischer Macht geronnene Traditionen und Gewohnheiten[xviii], angeborene menschliche Aggression und private Neigungen, sondern auch das an sich geringe Interesse der Menschen an argumentativer Gültigkeit überhaupt. Zudem ist gerade die Überprüfung von Tatsachenbehauptungen oft schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Betrug einfach. Außerhalb des akademischen Bereichs wird der Menschenrechtsdiskurs deshalb kaum so umfassend und differenziert geführt, dass über Fragen der Gültigkeit auch nur entschieden werden kann. Und selbst innerhalb des akademischen Diskurses verhindern Vorurteile, Ignoranz und academic business eine an Gültigkeitsfragen orientierte Auseinandersetzung. Gepflegtes Unwissen gibt dem Argument keine Chance. Besonders tragisch aber ist die fast, wenn nicht gar gänzlich ausnahmslose Unglaubwürdigkeit staatlicher oder regierungsamtlicher, ja auch parteipolitischer Kritik an Menschenrechtsverletzungen. Sie lässt es von vornherein nicht zu einem Sachdiskurs kommen.

 

5 Zur Steigerung der Wirksamkeit der Argumente

Was ist zu tun? Was kann getan werden? Staatliche, regierungsamtliche, parteipolitische und kirchliche Institutionen sollten Kritik an Menschenrechtsverletzungen nur dann äußern, wenn sie ehrlich gemeint und glaubwürdig ist. So ist gerade Kritik an eigenen Unzulänglichkeiten systematisch einzubeziehen. Aus Interesse an der Vergrößerung der eigenen Macht, und insbesondere aus Interesse an Stimmenfang geborene Kritik ist zu unterlassen. Summa summarum: Verwürfe gegen Menschenrechtsverletzungen dürfen kein Reflex moralischer Dünkel, doppelter Standards, einer Instrumentalisierung oder von Ignoranz sein.

Grundsätzlich sind NGOs wie amnesty international eher zu unangreifbarer Kritik in der Lage als die schon von ihrem Konzept her parteilichen Einrichtungen. Aber die NGOs müssen neutral, streng sachbezogen und soweit wie irgend möglich in überprüfbarer Weise argumentieren. Sie sollten sich nicht übernehmen und – anders als Human Rights Watch in seinen Äußerungen zu Falun Gong – nicht in allgemeinen Spekulationen über Gott und die Welt verlieren[xix]. Auch das untergräbt die Glaubwürdigkeit.

Wenn Vertreter der deutschen und chinesischen Regierung zusammentreffen, dann können und sollen sie selbstverständlich auch über Menschenrechtsfragen reden, wenn auch ohne großes, notorisch verdächtiges Trara. Gerade deutsche Spitzenpolitiker sollten dies tun; denn am ehesten ist auf eine Wirkung von oben nach unten zu hoffen. Dabei können sie sich sogar auf die buchstäblich fast Tag für Tag seitens der VR China erklärte Bereitschaft zum sachlichen Gespräch über Menschenrechtsfragen berufen[xx], ungeachtet der Motive für diese Bereitschaft. Aber sie müssen viel besser informiert sein, als es im Allgemeinen der Fall ist. D. h. sie müssen entsprechenden Informationen und Beratungen größeren Raum und größeres Gewicht beimessen. Es ist unentschuldbar, dass Politiker wie Klaus Kinkel und Helmut Schmidt so schlecht über den Konfuzianismus Bescheid wissen, wie es den Augenschein hat. Selbst die Möglichkeit, den chinesischen Gesprächspartner durch genaue Kenntnisse traditioneller chinesischer Philosophie zu überraschen und zu beeindrucken, Interesse ‚an China’ zu dokumentieren, bleibt dann ungenutzt – von der Chance, sich auf ‚chinesische’ Traditionen zu berufen, um ‚westliche’ Menschenrechtskonzepte zu rechtfertigen, nicht weiter zu reden. Freilich ist die Auswahl von Regierungsberatern schwierig. Aber es sollte gelingen, einseitige und in diesem Sinn tendenziöse Beratung auszuschließen. Über das bisherige Maß hinaus sollten Politikern kürzere und längere Listen jeweils einschlägiger Argumente und Gegenargumente vorgelegt werden bzw. zugänglich sein. Zunächst könnten sie die zeitsparenden prägnanten Formulierungen nutzen. Bei größerem Informationsbedürfnis und Interesse könnten sie auf die ausführlicheren Übersichten zurückgreifen. Eine Art Beispiel gebe ich mit der oben formulierten Liste von Argumenten gegen Kulturalismus und Traditionalismus.

Solche Listen könnten und sollten freilich auch weiter verbreitet werden.

Auch Journalisten und Massenmedien sollten dem Argument eine größere Chance geben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind freilich selbst die massenmedialen Darstellungen des ‚Konfuzianismus’ eine Katastrophe. Sie schwanken zwischen unkritischer modern-neokonfuzianisch-kommunitaristischer Begeisterung für die ersehnte Alternative zum ‚westlichen Individualismus und Materialismus’ und Schreckensbildern traditioneller, schier wesenseigener chinesischer Neigung zu totalitärer Herrschaft und Grausamkeit. Der Spiegel-Artikel „Bestie auf dem Drachenthron“ vom 14. April 2002 beschrieb die Grausamkeit Qin Shi Huangdis und der Kaiserin Wu Zetians im Großen und Ganzen treffend. Dennoch lieferte er ein falsches und jedem argumentativen Diskurs abträgliches China-Bild; denn er ging eben mit keinem Wort auf die zahlreichen humanen Persönlichkeiten der Geschichte Chinas ein. Entsprechende Texte, Theorien und Strömungen blieben ohnehin unerwähnt. Ja, nicht einmal die schlichte Information, dass fast 100 Prozent aller Chinesen, die über Qin Shi Huangdi Bescheid wussten und wissen, ihn für eine Art exemplarischen Unmenschen und nicht etwa für etwas paradigmatisch Chinesisches halten dürften, fehlte.

Pointiert gesagt, ist das allgemeine Klima im Deutschland eher argumentationsfeindlich. In den so genannten geisteswissenschaftlichen Kreisen herrscht vielleicht gar eine modische Misologie vor. Sie reflektiert die ironische Kritik, die Goethe im Faust seinem Teufel in den Mund legt, als er ein Collegium logicum empfiehlt. Besonders deutlich wird das immer wieder in dem im Namen von Hermeneutik, Verstehens-Bemühungen und des Respekts vor dem Fremden bekundeten Interesses an Kontextualisierung und der gleichzeitig demonstrativ zur Schau getragenen Verachtung für Fragen der Gültigkeit. Goethe-Kenner vergessen dabei, dass es im Faust nicht bei einer Verteufelung der Logik als Zwangsinstrument, die Natürliches und Menschliches tötet, bleibt. Goethe lässt seinen Mephisto auch sagen, dass es kaum einen sichereren Weg ins Verderben gebe, als die Stimme der Vernunft zu missachten.

Es mag weit hergeholt scheinen, ist es aber nicht. Schon in den Schulen sollte umfassend und engagiert zum kompetenten Umgang mit Argumenten und zu ihrer Wertschätzung erzogen werden. Das Interesse am Argument überhaupt ist zu steigern. Dann findet argumentative Auseinandersetzung gewiss auch in größerem Umfang Eingang selbst in Massenmedien.

Außerdem sollten natürlich nicht nur Politiker, sondern alle besser über ‚andere Kulturen’ informiert sein, als gang und gäbe. Aber diese Forderung ist bekannt.

Geht es um eine argumentative Auseinandersetzung mit Kulturalismus und Traditionalität, so ist vor allem Folgendes in Erinnerung zu rufen und zu beachten:

Letztendlich gibt es zum gültigen Argument keine Alternative. Akzeptiert jemand ein Menschenrecht, so mag es anderen gleich sein, aus welchen Gründen. Akzeptiert er es jedoch nicht, so bleibt am Ende nur die Möglichkeit, zu überzeugen. Alles andere hieße, auf Gewalt oder zufällige günstige Neigung zu setzen. Letztere aber dürfte immer wieder ausbleiben. Bliebe also die Gewalt.



Anmerkungen

 

[i] China Daily vom 06. März 2002, S. 1.

[ii] Vgl. zu diesem Thema auch Wegmann, Konrad, u.a. (Hg.), Menschenrechte: Rechte und Pflichten in Ost und West, Strukturen der Macht: Studien zum politischen Denken, Bd. 9. Münster: LIT 2001.

[iii] Huang Chun-chieh, Mencian Hermeneutics, New Brunswick (USA): Transaction Publishers 2001, S. 86.

[iv] Zur Unbrauchbarkeit dieser Begriffe vgl. meine Studie „Kulturelle Identität, ein gefährliches Phänomen?“ In: Ogawa Tadashi u.a. (Hg.), Interkulturelle Philosophie und Phänomenologie in Japan, München: iudicium1998, S. 113-138. Hier nur soviel: Individualismus ist nicht gleich Egoismus. Gruppenegoismus ist noch problematischer als Einzelegoismus. Auch ‚westliche’ Ethik lehnt Egoismus ab. Und ebenso ‚Materialismus’, wenn damit schlichtweg unmoralisches Besitzinteresse gemeint ist.

[v] Vgl. meine Kritik an Kinkel in meiner Studie „Das Märchen vom konfuzianischen Menschenrechtsverständnis“, in: Widerspruch 35/1998, S. 216-219, und Schmidts Darlegungen in der Zeit vom 03. Oktober 1997, S. 17ff. und vom 16. Dezember 1998, S. 15-20.

[vi] Vgl. zum Folgenden: Blume, Georg, und Yamamoto Chikako, Modell China: Im Reich der Reformen, Berlin: Wagenbach 2002, S. 126. Die Äußerungen Schmidts lauten im Zusammenhang: „Ich zweifle nicht, daß China auf dem richtigen Weg ist. Aber Konfuzianismus bedeutete [sc. uneingeschränkte] Pflichterfüllung. Man mußte den Befehlen von oben gehorchen. Das entspricht nicht ganz den Formen persönlicher Verantwortung, auf die Sie [Zhang Chaoyang] sich zu berufen scheinen. Im Konfuzianismus gab es keine Freiheit des Individuums. Niemand durfte für sich allein entscheiden. Natürlich ist der Konfuzianismus ein gutes sittliches Erbe, aber er taugt wenig für ein Verständnis der individuellen Rechte, wie sie den westlichen Demokratien zugrunde liegen.“

Eine ausführlichere Darstellung des Konfuzianismus biete ich in meinem Buch Konfuzius, Freiburg: Herder 2001.

[vii] Vgl. dazu Senger, Harro von, Die UNO-Konzeption der Menschenrechte und die offizielle Menschenrechts-Position der Volksrepublik China. In: In: Paul, Gregor (Hg.), Die Menschenrrechtsfrage: Diskussion über China – Dialog mit China, Göttingen:Cuvillier 1998, S. 62-115.

[viii] China Daily vom 11. Februar 2002, S. 1.

[ix] Einige Vorwürfe lassen sich jedoch kaum in gültiger Weise bezweifeln. So verstößt das chinesische Strafsystem und insbesondere des System der so genannten Umerziehungslager gegen Normen der Integrität menschlicher Würde und Standards der Rechtsstaatlichkeit. Es ist kaum vorstellbar, dass es keine inakzeptablen Willkürakte, keine grausamen Sanktionen, keine Folter einschließt. Keine noch so ausgetüftelte traditionelle ‚harte’ Pflicht-Ethik kann dies System rechtfertigen, und auch Berufungen auf den aktuellen historischen Entwicklungsstand der VR China können dies nicht. Eine im Großen Ganzen wohl zuverlässige Darstellung der Lager-Systeme bis etwa 1995, die überdies ein instruktives Literaturverzeichnis enthält, bieten Joel Kotek und Pierre Rigoulot in ihrem Buch Das Jahrhundert der Lager, Berlin: Propyläen 2001, S. 561-590.

[x] Vgl. etwa China Daily vom 20. März 2002, S. 2; Beijing Review Nr. 21 vom 21. Mai 2002, S. 4f.

[xi] Vgl. oben, Anm. 9.

[xii]  China Daily vom 20. Juli 2001, S. 4.

[xiii] Vgl. Diefenbach, Thilo,  Falun Gong. Herkunft und Hintergründe einer chinesischen Massenbewegung. In: Mitteilungsblatt 2/2001, Bochum: MultiLingua 2001, S. 11-16.. Vgl. auch China Daily vom 20. Juli 2001, S. 4.

[xiv] China Daily vom 12. März 2002, S. 5, und China Daily  vom 06. März, S. 1.

[xv] http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2001/eap/8289.htm

[xvi] China Daily vom 12. März 2002, S. 5. Vgl. auch China Daily  vom 06. März, S. 1.

[xvii] China Daily vom 12. März 2002, S. 4f.

[xviii] Vgl. zu all dem meine Studie „Wai ru nei fa: nach außen konfuzianisch, innerlich legalistisch“. In: Paul, Gregor (Hg.), Die Menschenrechtsfrage: Diskussion über China - Dialog mit China, Göttingen: Cuvillier 1998, S. 39-61.

[xix] http://hrw.org/press/2002/02/falungong.htm

[xx] Vgl. die mehrfach zitierte Verlautbarung in China Daily vom 15. März, S. 5, vor allem aber Li Pengs Gratulation zur Begründung und Veröffentlichung des seit März 2002 im Anstand von zwei Monaten erscheinenden chinesischen Magizins Human Rights in China Daily vom 11. Februar 2001, S. 1. Vgl. dazu auch Johnny Erlings sehr kritische Stellungnahme im WWW, http://www.welt.de/daten/2002/02/15 ...