Nach
dem 11. September 2001
Die
öffentliche Auseinandersetzung um den Terrorismus und den Afghanistan-Krieg:
Opportunismus, Propaganda und Einschüchterung statt Menschenrechts-bestimmter
argumentativer Diskussion
Verfasst zwei bis drei Wochen nach Beginn der US-Bombardements in Afghanistan und in der damaligen Version belassen
Gregor
Paul, Universität Karlsruhe
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Am 11. September 2001 brachten Selbstmordattentäter über 5000 Menschen um. Die
ungeheure Tatsache, dass die Mörder Passagierflugzeuge entführt und samt
Passagieren ins World Trade Center und ins Pentagon gesteuert hatten, verstärkte
die berechtigte moralische Empörung. Die USA reagierten mit der Ankündigung,
nicht eher zu ruhen, als bis die Verbrecher zur Rechenschaft gezogen seien.
Andere Staaten erklärten sich mit den USA solidarisch. So bildete sich eine
weitgespannte Anti-Terror-Koalition, die insbesondere die Nato-Staaten,
Russland, China, Pakistan, Indien und Syrien einschloss. Als die USA zu der Überzeugung
gelangten, dass der in Afghanistan lebende Bin Laden die Anschläge veranlasst
habe, forderten sie die herrschenden Taliban auf, ihn ausliefern. Die Weigerung
der Taliban beantworteten die USA mit Krieg. Der innerafghanische Gegner der
Taliban, die so genannte Nord-Allianz, eine ähnlich menschenverachtende
Verbindung wie die Taliban selbst, wurde von den USA und deren Verbündeten
aufgerüstet. Das Land wurde wochenlang bombardiert.
Die
Vorgänge werfen zahlreiche grundsätzliche Fragen auf. Die wichtigsten sind:
Wie lassen sich Terrorakte vereiteln, ohne dabei (zu viele)
Menschenrechtsverletzungen zu begehen? Worin liegen die Ursachen des Terrors?
Was sind die besten Mittel, um ihm zu begegnen? Ist ein Krieg wie der
Afghanistan-Krieg überhaupt ein angemessenes – juristisch legitimes und
moralisch akzeptables – und ein erfolgversprechendes Mittel? Die akute
politische und massenmediale Auseinandersetzung „im Westen" – und nicht
zuletzt in Deutschland – war jedoch weithin dadurch gekennzeichnet,
entsprechenden Diskussionen auszuweichen, sie zu unterdrücken, ja, solche
Diskussionen gar nicht erst zuzulassen.
Dies
führt zu weiteren Fragen: Wie sind Regierungen und Medien zu beurteilen, die
argumentative Auseinandersetzungen um Krieg und Frieden, um Leben und Tod
zahlreicher Menschen behindern und verhindern? Noch radikaler formuliert: Warum
hatten argumentative Auseinandersetzungen in der Frage der
„Afghanistan-Krieges“ so gut wie keine Chance? Ist die Frage nach Krieg und
Frieden und Leben und Tod Tausender Menschen prinzipiell nicht argumentativ zu
entscheiden? Darf sie gar nicht erst Gegenstand argumentativer Diskussion
werden? Und wenn nicht, warum nicht? Weil sonst eine Art Hamletscher Reflexion
und Zögerlichkeit das schnelle, unabdingbare Handeln unmöglich machte? Oder
gar, weil die mündigen Bürger rechtsstaatlicher Demokratien prinzipiell
inkompetent sind, wenn es um die Frage nach Krieg und Frieden geht? Da
zahlreiche „kriegswichtige“ Informationen der Geheimhaltungspflicht
unterliegen, besitzen die Bürger ja ohnehin nur unzureichende einschlägige
Informationen.
Aber
müssen auch die Parlamentarier, deren Aufgabe die Kontrolle der Regierung ist
und die ihre Urteile in moralischer Autonomie treffen sollten, daran gehindert
werden, eine Entscheidung auf dem Weg kritischer Argumentation herbeizuführen?
Oder
muss jede kritisch-rationale Diskussion um die moralische Akzeptabilität von
Krieg und Frieden, oder jedenfalls um die Akzeptabilität eines Krieges wie des
Afghanistan-Kriegs, gar deshalb vereitelt werden, weil sie aufgrund der dabei
zwangsläufig laut werdenden gültigen Argumente Krieg unmöglich machte? Hielt
die Inquisition doch Friedrich von Spees Argumenten gegen Hexenverfolgung,
Folter und Verbrennung und Friedrichs Aufforderung, der Vernunft zu folgen,
entgegen: Gehorchte man der Vernunft, so
hätte man „keine Hexen mehr zum Verbrennen“. Friedrich blieb die
ratlos-verzweifelte Feststellung:
„Da
sprechen es die Richter selbst ganz laut aus: Dienen wir der Gerechtigkeit,
folgen wir der Vernunft, so haben wir keine Hexen mehr zum Verbrennen. Ich weiß
nicht, was ich dagegen vorbringen soll, denn ich bin einverstanden [...]“ (Cautio
criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse, 21. Frage, 1.
Aufl. 1631; dtv klassik 1480, S. 102).
Wie
gesagt, wirft der „Afghanistan-Krieg“ viele Fragen auf. Wenn ich mich im
Folgenden auf eine Analyse der argumentations- und diskussionsfeindlichen Art
konzentriere, in der die deutsche Regierung und, von der PDS und einigen wenigen
anderen Ausnahmen abgesehen, deutsche Spitzenpolitiker sowie die meisten
Massenmedien mit den Problemen umgingen, die mit den Stichworten
„Terrorismus“, „Leben“, Tod“, „Krieg und Frieden“ angesprochen
sind, so vor allem, weil ich in dieser Art eine eklatante und gefährliche
Verletzung der Normen der Meinungsfreiheit und der moralischen Autonomie sehe,
und d. h. eine Gefahr für eine menschenrechtskonforme Politik.
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In der Auseinandersetzung mit Terrorakten wurde und wird nicht hinreichend klar
zwischen (a) Rechtfertigung oder Billigung und (b) Erklärung – d.h. der
Analyse und Darstellung von Ursachen, Gründen, Motiven usw. – von
Terrorakten unterschieden. Vielmehr werden Erklärungen als Rechtfertigungen
denunziert. Wer etwa sagt, dass er die Anschläge auf New York auch als
Reaktion auf die US-Politik gegenüber der „arabischen Welt“ begreife, wird
verdächtigt, sie damit entschuldigen zu wollen. Warum? Soll so
berechtigter Kritik an moralisch inakzeptablen Formen der Terrorismusbekämpfung
vorgebeugt werden? Terrorismus ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber
das entbindet nicht von einer Analyse und Darstellung der Ursachen. Sie muss man
kennen. Denn nur die Beseitigung der Ursachen führt letztendlich zur
Beseitigung des Terrorismus. Terroristen sind zur Rechenschaft zu ziehen.
Aber das entbindet nicht von der grundsätzlichen Verpflichtung zu ethisch und
rechtlich verantwortbarem Vorgehen. Sonst bräuchte man nicht gegen die
Todesstrafe zu argumentieren oder auch nur zwischen Lynchjustiz und Hinrichtung
zu unterscheiden. Man könnte wohl auch dem Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um
Zahn" folgen. Die in unproblematischen Situationen als christliche
Errungenschaft gepriesene Maxime, eine Wange hinzuhalten, wenn man auf die
andere geschlagen werde, erwiese sich (ein weiteres Mal) als pure Heuchelei. Die
Gefahr, Rache oder Vergeltung zu üben, statt zur Rechenschaft zu ziehen, wäre
groß.
Ein
Beispiel mag das Gesagte erläutern: Wenn jemand in einem regelrechten
Gerichtsverfahren in rechtsstaatlicher Weise für schuldig befunden und
verurteilt wird, dann heißt das nicht, dass sein Verbrechen damit gebilligt
oder gerechtfertigt würde. Auch die in solch einem Verfahren geforderte
„Ursachenforschung" braucht keinerlei Billigung einzuschließen oder nach
sich zu ziehen. Sie kann sogar zu einem besonders „hartem Urteil“ führen.
Nach ethisch begründetem rechtsstaatlichem Verständnis liegt der Sinn einer
von einem Gericht ausgesprochenen „Strafe“
zudem eher in den Zielen der Resozialisation, Prophylaxe und des Schutzes
der Gesellschaft als in einer Vergeltung. Entsprechend sollten Maßnahmen, die
gegen den Terrorismus gerichtet sind, zwar auch das legitime Bedürfnis nach
Gerechtigkeit befriedigen, in erster Linie aber der Vorbeugung und dem Schutz
dienen.
Das
potentielle Gegenargument, dass die moralischen Regeln für individuelle
Beziehungen nicht auf kollektive Beziehungen oder abstrakte Relationen wie die
zwischen Staaten übertragbar seien, ist nicht stichhaltig. Insbesondere ist
nicht einzusehen, dass – wie ja gerade „der Westen“ immer wieder betont
– jeder Einzelne ein Recht auf Leben hat, eine große Gruppe Menschen jedoch
nicht.
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Es wurde und wird in geradezu unverschämter Weise gelogen. Das
„Publikum" wird für dumm verkauft. Insbesondere allen führenden
Politikern und Militärs war bekannt, dass die Bombardements Afghanistans vor
allem die Zivilbevölkerung treffen mussten. Es gehört zu den Formen
„moderner Kriegsführung", dass sich „das Militär" und
insbesondere „die Guerillas" möglichst unter Zivilisten aufhalten. Außerdem
verlangt jeder Angriff auf Infrastrukturen – Kraftwerke, Wasserwerke, Straßen,
Brücken, Lebensmitteldepots usw. –, dass (auch) Zivilisten angegriffen
werden. Im Übrigen erlauben Streubomben und Bomben wie die so genannte „Daisy
Cutter“ kaum „gezielte" Angriffe. Wenn man das Töten von Zivilisten
rechtfertigen will, bleibt nur das Argument des „kleineren Übels".
Dieses Argument aber ist zu prüfen, wenn es jedenfalls um das Leben von
Hunderten oder gar Tausenden von Menschen geht.
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Statt die Frage zu diskutieren, ob man Hunderte oder Tausende von unschuldigen,
hilflosen Menschen um eines höheren Gutes, der Ausmerzung des Terrorismus
willen, töten darf oder töten sollte, wich und weicht man ihr aus.
Wie angedeutet, wäre zu zeigen gewesen, dass ein Krieg wie der Afghanistan-Krieg einschließlich all seiner sicheren Folgen ein kleineres Übel abgibt als ein Verzicht auf solch einen Krieg und die (vorläufige) Duldung eines Systems wie des Taliban-Regimes. Zu den sicheren Folgen gehörten dabei: die unschuldigen Toten der Bombardements, die Flüchtlinge, die Opfer von Hunger und Kälte, eine Zunahme des Hasses auf Seiten vieler Moslems, die Motivierung zu weiteren Selbstmordanschlägen, die Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit „westlicher“ Politik, die Gefahr, dass der Krieg zum Präzedenzfall wird bzw. bzw. die Gefahr der Eskalation anti-terroristischer Kriege. Weiter wäre zu zeigen gewesen, dass es in der Auseinandersetzung mit „dem Terrorismus“ keine Alternative zum Bombenkrieg (samt seinen Folgen) gab.
Doch
statt sich auf solche Diskussionen einzulassen, versuchten und versuchen die
meisten Politiker und Medien, die Auseinandersetzung auf Fragen wie die
folgenden Probleme zu lenken und zu beschränken: Muss Deutschland nicht
„unbedingt" zu den USA stehen? Müssen politische Parteien nicht
einheitlich urteilen? Muss eine Partei nicht ihre Regierungsmitglieder unterstützen?
Ist eine Partei, die das Töten von Hunderten oder Tausenden von Zivilisten nicht
als „kleineres Übel" ansieht, überhaupt regierungsfähig? Darf man
solch eine Partei mit Regierungsverantwortung betrauen? Muss ein Politiker nicht
schon um des Machterhalts willen zu den Bombardements in Afghanistan stehen? Ist
es nicht endlich Zeit, der „Spaß-Gesellschaft" eine Ende zu bereiten und
sich auf solch ernste Probleme wie eine kriegsbereite starke Verteidigung zu
konzentrieren? Muss die Bundesrepublik nicht endlich „erwachsen“ werden? Sie
würde also ein „Kind“ und „unreif“ bleiben, wenn sie sich nicht am
Afghanistan-Krieg beteiligte?
Der
Ton einiger Presse-Kommentare schien gar einen Hauch von Kriegsbegeisterung zu
offenbaren. Aber Kriege sind keine Schauspiele. Es leiden und sterben
wirklich Menschen. Kinder krepieren nach zwei Wochen unter Trümmern. Doch der
Hinweis auf Kinder scheint nur soweit eine Rolle zu spielen, wie er als
Instrument in der Medienkampagne gegen den „Feind“ eingesetzt werden kann.
„Der Westen“ zeigte vor allem Bilder toter amerikanischer Kinder. Arabische
Sender zeigten vor allem Bilder toter afghanischer Kinder.
So
war und bleibt es in der Tat fragwürdig, wenn weniger über Tod und Leben und
Krieg und Frieden als um „unbedingte Bündnistreue“, Regierungsmacht,
Mandate und außenpolitischen Einfluss gestritten wird. Selbst wenn eine
Forderung nach (Bündnis-)Solidarität berechtigt ist, ist sie es ja nur, soweit
sie moralisch akzeptabel und juristisch legal ist. Die Frage der „Bündnistreue“
wäre deshalb auf jeden Fall auf ihre moralische Akzeptabilität hin zu prüfen
(gewesen). „Unbedingte Solidarität“ ist ohnehin nur dann ethisch zulässig,
wenn sie höchsten moralischen Prinzipien wie der Integrität menschlicher Würde
gilt. Sie darf niemals primär einem Staat, einer Regierung oder einem Menschen
zuteil werden. In der Form, in der sie Kanzler Schröder bekundete, war sie überdies
juristisch illegitim und sogar logisch problematisch. Schließlich war und
bleibt sie in der geäußerten Form auch sachlich falsch; denn es ist
keinesfalls so, dass „alle Deutschen“ „unbedingte“ oder „uneingeschränkte“
Solidarität empfänden. Auch das Argument, dass die Bundesrepublik „endlich
Verantwortung“ (für Krieg und Frieden, und dies selbst im Ausland) übernehmen
müsse, ist von nachgeordnetem Rang. Ausschlaggebend muss sein, ob eine
Entscheidung überhaupt so geartet ist, dass man sie begründet teilen kann.
Erst dann kann man sie ja „mit tragen“ und „mit verantworten“. Außerdem
wirft die Forderung, „Verantwortung“ zu übernehmen, zumindest die Frage
auf, ob sie nicht vorgeschoben ist, um einer schleichenden Aufwertung des Militärischen
(als politischen Mittels) den Weg zu ebnen. Und schließlich hat sie den Geruch
schlichter Kraftmeierei.
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Problematisch war und ist der zum Teil bewusste Versuch, Argumenten
auszuweichen, indem man ihren Vertretern die moralische Legitimation abspricht,
sie überhaupt zu äußern. Verhielten sich Staaten wie die USA und die
Bundesrepublik mit Blick auf sich selbst genau so, so dürften sie keine
Menschenrechtsverletzungen mehr kritisieren. Als die PDS den Afghanistan-Krieg
kritisierte, hielt man ihr (!) vor, den sowjetischen Krieg gegen Afghanistan
gebilligt zu haben und deshalb nicht berechtigt zu sein, nun die USA zu
kritisieren. Aber die Gültigkeit einer Behauptung – oder Kritik – ist völlig
unabhängig davon, wer sie wann wo wie äußert. Im Fachjargon formuliert:
Geltung ist unabhängig von Genesis. Zudem weiß jeder, der die PDS dergestalt
zu diskreditieren sucht, dass nicht sie, sondern die SED den sowjetischen Krieg
widerspruchslos hinnahm. Darüber hinaus weiß jeder, dass nicht nur ehemalige
Mitglieder der SED, sondern auch ehemalige Mitglieder anderer DDR-Parteien –
wie der DDR-CDU – den Standpunkt der SED vertraten. Und schließlich waren
zahlreiche Ex-Nazis einflussreiche Gestalten des öffentlichen Lebens der frühen
bundesrepublikanischen Jahre.
Wer
also der Frage nach der Gültigkeit von Argumenten ausweicht, indem er einfach
deren Autoren moralisch zu diskreditieren sucht, der will sich im Allgemeinen überhaupt
nicht auf (die an sich geforderte) Sachdiskussion einlassen. Die Sache selbst
– ob ein Argument gegen einen Krieg und unzählige zivile Opfer gültig ist
– interessiert ihn nicht. Noch einmal: Kein Staat der Welt wäre danach
legitimiert, Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten zu monieren; denn es
gibt keinen einzigen, der sie nicht zu irgend einer Zeit oder in irgend einem
anderen Staat gebilligt oder doch stillschweigend geduldet hätte. Eine
interstaatliche Sachdiskussion um Menschenrechte wäre danach ein für alle Mal
unmöglich.
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Wie immer man die Auseinandersetzung um antiterroristische Maßnahmen und
insbesondere die Bombardements in Afghanistan bewertet: in der öffentlichen
Politik und in den Massenmedien spielten und spielen ernst zu nehmende Argumente
eine zu geringe Rolle. Es dominieren Propaganda, Rhetorik, Verschiebung der
Problematik, Desinformation, Indoktrination, Einschüchterung usw. Dürfen die
„mündigen Bürger" demokratischer und rechtsstaatlicher
Gesellschaften nicht erwarten, ja müssen sie nicht verlangen, dass sie in
Fragen von Leben und Tod treffend (und nicht demagogisch) informiert und in
Entscheidungs-relevante argumentative Diskussionen einbezogen werden? Müssen
sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden?
Um
ein Übel beseitigen zu können, muss man dessen Ursachen ausmerzen. Zu diesem
Zweck muss man die Ursachen kennen, und zwar möglichst genau. Um dem „mündigen
Bürger“ einer demokratischen, rechtsstaatlichen und den Menschenrechten
verpflichteten Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, über Erfolg(saussichten)
und ethische Akzeptabilität antiterroristischer Maßnahmen zu urteilen,
muss auch er die Ursachen des Terrorismus kennen. Wie will er sonst feststellen,
ob oder wieweit eine Maßnahme tatsächlich eine Ursache des Terrorismus trifft?
Und wie, ob sie nicht „zu weit geht“? Ob Verhältnismäßigkeit gewahrt ist?
Wie soll parlamentarische Kontrolle stattfinden, wenn es wichtiger ist,
Mehrheiten zu sichern, als gültig begründete Entscheidungen zu treffen? Wie
soll da das Prinzip der Gewaltenteilung gewahrt bleiben? Also müssen die
Ursachen des Terrorismus, und insbesondere die Ursachen von terroristischen
Anschlägen, die man mit Krieg beantworten möchte, auch zur Sprache kommen dürfen.
Ja,
es ist geradezu Pflicht des „mündigen Bürgers“, das Seine zur
Ursachenforschung und damit zur Bekämpfung des Terrorismus beizutragen.
Dabei
dürfen nicht nur die Ursachen genannt werden, die dem, der den Terrorismus mit
Krieg begegnen will, in den Kram passen, sondern auch die, die er mit keinem
noch so schrecklichen Bombardement treffen und ausmerzen kann. Und zu diesen gehören
nun einmal der Unterschied zwischen reichen und armen Gesellschaften, das Palästina-Problem,
die unaufrichtige, verlogene und unglaubwürdige „Menschenrechts“-Politik
des „Westens“ und insbesondere der USA und manche Züge der wirtschaftlichen
Globalisierung, und seien diese Ursachen noch so vermittelt und die Zusammenhänge
im Einzelnen noch so schwer auszumachen.
Hat
der „Westen“ und haben die USA in Afghanistan nicht über Jahrzehnte hinweg
Verbrecher und Mörder unterstützt? Unterstützen sie nicht Saudi-Arabien und
dessen korruptes, menschenverachtendes Regime? Unterstützten und unterstützen
sie in ihrem Krieg gegen die Taliban nicht die „Nordallianz“, die ähnlich
wie die Taliban von Verbrechern und Menschenrechts-Verächtern geführt wird?
Wie kann eine „moralische Instanz“ glaubwürdig sein, die Milosovitch vor
einem Gericht aburteilen will, während sie gleichzeitig mutmaßliche Massenmörder
und Verbrecher gegen die Menschrechte wie den „Nordafghanen“ Dostum stärkt
– dem noch weniger moralische Integrität zuzusprechen sein dürfte als dem Führer
der Taliban?
Und
wie steht es um andere Staaten und Gruppen, die Terroristen Bleibe und Schutz
gewähren? Sollen nach und nach Syrien, der Irak, der Iran, Somalia oder auch
palästinensische Gebiete angegriffen werden? Und wenn nicht, warum nicht, wenn
„der Westen“ doch der Meinung ist, sie böten Terroristen Unterschlupf? Oder
sollte man auf günstige Gelegenheiten warten? Allein die theoretische Möglichkeit,
dass solch eine „Strategie“ existiert, zwingt verbrecherische Systeme wie
den Irak zu entsprechenden „vorbeugenden“ Maßnahmen. Und selbst
Saudi-Arabien dürfte misstrauisch geworden sein. Und wie steht es um Staaten,
die im Namen des Anti-Terrorismus gewaltsam gegen ethnische Minderheiten und
politische „Separatisten“ vorgehen? Was, wenn Indien meint, Pakistan
angreifen zu dürfen, weil es in Kashmir aktiven Terroristen Schutz gewähre?
Wenn
es dem mündigen Bürger und dem Parlamentarier, der sich seinem Gewissen
verpflichtet fühlt, so schwer gemacht wurde und wird, öffentlich gegen einen
Krieg wie den Afghanistan-Krieg zu argumentieren und wenn zu diesem Zweck
massive Einschüchterungsversuche unternommen wurden, dann kann es dafür nur
einen Grund geben:
Man
wollte den Krieg und hatte sich längst für ihn entschieden.
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Warum? Wie gesagt, fehlte und fehlt es an Versuchen, die Entscheidung in einer
kritischen ethisch-moralischen Auseinandersetzung zu begründen bzw. zu
rechtfertigen. Faktisch gab und gibt nicht die Moral den Ausschlag. Was dann?
Darüber ausführlich zu spekulieren, führte zu weit. Einige Motive sind
freilich evident. Die „Psychologie“ verlangt nach einer schnellen Reaktion.
Man möchte eine sichtbare, machtvoll wirkende Antwort. Man will
abschrecken und vergelten. Außerdem können machtpolitische und ökonomische
Interessen Entscheidungen für Krieg begünstigen. Was die offizielle und offiziöse
Diskussion in der Bundesrepublik angeht, so wurden und werden, wie gesagt,
wiederholt folgende Argumente vorgebracht: Man müsse gegenüber den USA loyal
sein. Das aber heißt, wie ebenfalls ausgeführt, (a) politische Loyalität
gegenüber einem Staat (!) für wichtiger zu halten als effiziente und moralisch
legitime Maßnahmen gegen den Terrorismus. Man müsse Verantwortung zeigen. Man
gerate sonst in außenpolitische Schwierigkeiten. Die eigene Regierungsmacht und
der eigene Parlamentssitz seien sonst gefährdet. Zu einem „erwachsenen“
Staat gehöre es, auch vor militärischen Engagements nicht zurückzuschrecken.
Wie
gesagt, zeigte „der Westen“ das Leid und Elend unschuldiger afghanischer
Kriegsopfer nicht genauso ausführlich und intensiv wie das Leid der
unschuldigen Opfer der Terroranschläge auf New York, weil er sicher sein
musste, dass solche Bilder den Widerstand gegen den Krieg stärken würden. Aber
sie sind genau so beklagenswerte Menschen wie zum Beispiel die ermordeten
Amerikaner. Reicht es nicht zumindest dann, ein Mensch zu sein, wenn es um das
nackte Recht auf Leben geht? Betonen nicht gerade Vertreter der USA und der
Bundesrepublik immer und immer wieder, dass Menschenrechte individuelle Rechte,
Rechte von Einzelnen seien?
Und
wie steht es um die, die um die unschuldigen Opfer klagen, die sie nun tot
sehen? Shakespeare bringt in den letzten zwei Versen seines 66. Sonetts implizit
zum Ausdruck, was wir fast alle
wissen: die Liebe zu einem einzigen Menschen kann das Leben lebenswert, sein Tod
unser Leben elend und sinnlos machen.
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Die „öffentliche“ Auseinandersetzung um Terrorismus und Afghanistan-Krieg
kommt einer Bankrott-Erklärung der staatlich-gesellschaftlichen
Menschenrechtserziehung gleich, das heißt der staatlich und gesellschaftlich
faktisch präsentierten Erziehung zur Kenntnis und Achtung der Menschenrechte. Denn
Erziehung zur Meinungsfreiheit ist eine unerlässliche Bedingung jeder
Menschenrechtserziehung. Erziehung
zu systematischer Skepsis, systematischer Prüfung ist „ein Muss“.
Das
illustrieren vor allem Extreme: Hitlerjungen, FDJ-ler, Palästinenserjungen,
Kinder und Jugendliche, die von Staat, Schule, Eltern, öffentlichen Medien und
in der Tat von allen Seiten immer
nur das Eine hören und lernen – dass nämlich Wahrheit und Recht so und so
aussähen und dass es keinerlei anderslautende Auffassungen und Gesichtspunkte
gebe – und die nichts als die „Schönheit“ und „den Reiz“ von
Uniformen, Jugendlagern, Schießübungen und Märtyrertum kennen lernen, können
kaum anders, als zu Verbrechern
an Andersdenkenden zu werden. Dies ist eine bittere, ironische Lektion.
Die
Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat, in dem – noch? – Meinungsfreiheit
herrscht. Auch Parlamentarier könnten anders entscheiden, als sie es tun, wenn
sie nur gültigen Argumenten folgten und nicht etwa Einschüchterungen und den
Versuchungen der Macht nachgäben. Wie sich leicht zeigen ließe, wäre das eine
auch durch und durch realpolitische und pragmatische Alternative. Sie hätte
nichts mit weltfremdem Idealismus zu tun. Wie leicht ist es doch, Millionen von
Menschen von der Notwendigkeit eines Krieges zu überzeugen. Sollten da
vergleichbare Anstrengungen zur Friedenssicherung prinzipiell und von vornherein
zum Scheitern verurteilt sein? Ist es da nicht plausibler, von einem
entsprechenden Unwillen der Kriegsbefürworter statt von einer blauäugigen
Utopie der Gegner auszugehen?
Da
Meinungsfreiheit herrscht, ist die Empörung gerade von Schulkindern und
Jugendlichen über die Politik der Regierung denn auch so deutlich. Viele, wenn
nicht die meisten Kinder und Jugendlichen der Bundesrepublik haben gelernt,
eigene, wohlbegründeten Urteile abzugeben. Sie empfinden sich selbst als
moralisch autonome Individuen – wie es ja auch der Fall sein sollte. Ich habe
bisher nur einen Schüler und Jugendlichen kennen gelernt, der den
Afghanistan-Krieg befürwortete. Sollten gar frühe Umfragen zu diesem Krieg
fragwürdig sein? In einer Schülerzeitung las ich folgende Stellungnahmen:
„Ein
Kommentar zum 11. 09. 2001
Weil
mich sonst alle missverstehen würden, muss ich wohl vorwegnehmen, dass ich die
Anschläge vom 11. September verurteile, wie ich jeden Anschlag verurteile, bei
dem Menschen ums Leben kommen. [...]
Wenn
dort 6.400 Menschen gestorben sind, sind das 6.400 zu viel. Doch es sind um
Millionen weniger als die, die in den letzten Jahren dank Amerika gestorben
sind!
Wenn
Schröder sagt: ‚Alle Deutschen stehen hinter Amerika!’, dann habe ich Lust,
ihm [...] gehörig die Meinung zu sagen, denn ich stehe nicht hinter Amerika
[...]
Ich
sage nicht, dass es Amerika recht geschieht, aber ich sage, dass ich nicht um
Amerika trauere! Ich trauere um die Menschen, die dort gestorben sind! Ich
trauere um sie, wie ich um die Menschen trauere, die täglich an Hunger oder an
Aids sterben oder durch die Bomben, die die Amerikaner auf sie werfen. [...]
Warum trauern alle um die Amis und niemand um die unglaublich vielen Kinder, die
täglich sterben, weil sie nichts zu essen bekommen? Warum denkt [...] niemand
mehr an die Menschen, die in den letzten Jahrzehnten und noch heute auch dank
Amerika sterben mussten [und müssen]? Ich trauere um die toten Amerikaner, aber
ich trauere genauso um die Menschen in Nah-Ost, die von den Amerikanern getötet
wurden [...]
Ich
finde das, was am 11. 09. 2001 passiert, so schlimm, dass ich es nicht in Worte
fassen kann. Aber ich möchte ehrlich sein: ich finde es noch viel schlimmer,
dass alle Welt um die Amerikaner trauert und kaum einer die anderen Toten erwähnt.“
„Seit
einigen Tagen hält eine neue Terrorwelle die Welt in Atem. Schon seit
Sonntagabend (MESZ) ist Afghanistan das Ziel einiger Terroranschläge.
Terroristen feuerten mehrere Raketen auf die Stadt Kabul ab. Diese Anschläge
werden fortgesetzt und inzwischen wird auch der Einmarsch von bewaffneten
Terroristen in das Land befürchtet.
Zur
Zeit gibt es keine Informationen über die Anzahl der Opfer.
Zu
den Terroranschlägen bekannte sich eine Organisation namens USA, die schon seit
einiger Zeit diesen Terror angekündigt hatte und den Geheimdiensten schon lange
bekannt ist.“
Die
zweite Stellungnahme ist gewiss höchst problematisch. Aber sie ist auch Beleg für
eine schützenswerter Meinungsfreiheit. Beide sind Ausdruck wohlbegründeter und
berechtigter moralischer Empörung über die Ungerechtigkeit und das Unrecht,
das mit dem Anlegen doppelter Standards, dem Messen mit zweierlei Maß verbunden
ist, und dies – um es noch einmal zu betonen – angesichts von Fragen, in
denen es um Leben und Tod, Krieg und Frieden geht. Die Tatsache, dass das Leben
von Hunderttausenden von Menschen nicht zählt oder nicht zu zählen scheint,
oder als vergleichsweise unbedeutend gilt, und die Tatsache, dass die
Regierungen der USA und „des Westens“ in Afghanistan den Tod von – am Ende
wohl gewiss mehr als Tausend unschuldigen Menschen – billigend in Kauf nahmen,
um mit zweifelhafter Aussicht auf endgültigen, bleibenden Erfolg eine relativ
kleine Gruppe von mutmaßlich Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, sind
unbestreitbar und offensichtlich. Umso größer die Empörung angesichts der
Versuche, solche Tatsachen totzuschweigen oder gar zu leugnen.
Die
Politik der US-Regierung und der Regierung der Bundesrepublik ist ungeeignet,
Kinder und Jugendliche davon zu überzeugen, dass man für Menschenrechte
eintritt und eintreten soll. Sie trägt dazu bei, dass sich auch bei Kindern und
Jugendlichen die „Einsicht“ herausbildet, die die „Spitzenpolitiker“
kennzeichnet. Wirklich wichtig, so müssen auch Kinder und Jugendliche glauben,
sind Machtfragen. Menschenrechte sind danach nur soweit schützens- und fördernswert,
wie sie dem eigenen Machterhalt dienen. Kanzler Schröders Verbindung der
Vertrauensfrage, der Frage nach dem Fortbestand der eigenen Regierung, mit der
Frage nach einem Ja oder Nein zu einer Bereitstellung deutscher Militärs war
ein Einschüchterungsversuch und ein weiteres Beispiel in der langen Kette der
Exempel, die den Triumph der Macht über die Moral dokumentieren. Sie zwang
viele Parlamentarier faktisch dazu, sich entweder für den Afghanistan-Krieg
auszusprechen oder auf eigene Macht und Privilegien zu verzichten. Angesichts
dieser Alternative entschieden sich dann die meisten Kriegskritiker in der
Gruppe dieser Abgeordneten für den Erhalt von Macht und Privilegien.
Viele
Kinder und Jugendliche verlieren, wie es so schön heißt, im Laufe der Jahre
„ihre Illusionen“. Sie werden „erwachsen“. Aber dieser Prozess ist in
der Tat nicht nur Reaktion auf Enttäuschungen und Anpassung an die Realitäten:
er ist oft auch ein moralischer Abstieg. Sehen nicht gerade so manche deutschen
„Spitzenpolitiker“ der Gegenwart, die so genannten (ehemaligen) 68-er,
Wehrdienstverweigerer, Kriegs- und Atomgegner aus, wie die Protagonisten der Animal
Farm: die einst guten Schweine, die sich am Ende nicht mehr von den bösen
Menschen unterscheiden lassen? Und sind sie nicht dabei, eine Kontrolle zu ermöglichen,
wie sie Orwell in seinem Roman 1984 beschreibt?[1]
Sicherheit ist ja keinesfalls einfach umgekehrt proportional zur Freiheit. Das
hat Martin Kutscha in einem Artikel der Frankfurter Rundschau vom 07.
November 2001 erneut überzeugend nachgewiesen. Das wichtigste, im gegebenen
Zusammenhang relevante Moment: Wer befürchtet, überwacht zu werden, hat oft
Angst, seine Meinung aufrichtig zu äußern. Überwachung bringt faktisch eine
Einschränkung der Meinungsfreiheit mit sich. Die aber führt zur Stärkung
autoritärer und totalitärer Machtstrukturen, die ihrerseits die Sicherheit der
Bürger gefährden.
Auch heute setzt Erziehung, und insbesondere moralische Erziehung die Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, ja ein – zumindest grundsätzlich – vorbildliches Verhalten der Erzieher voraus, wenn sie so erfolgreich wie möglich sein will. Lüge, Heuchelei, Opportunismus, doppelte Moral und doppelte Standards, Machtdemonstrationen, Einschüchterung und die Diskreditierung rational-kritischer Argumentation sind keine geeigneten Mittel.
[1]
Die letzten Passagen der Animal Farm sollten immer wieder dazu
veranlassen, über die Korruption der Macht und potentielle Mittel, ihr
entgegen zu wirken, nachzudenken:
„There
were shoutings, bangings on the table, sharp suspicious glances, furious
denials. The source of the trouble appeared to be that [the leader of the
pigs] Napoleon and [the leader of the human visitors to the farm] Mr.
Pilkington had each played an ace of spades simultaneously.
Twelve
voices [hosts and visitors] were shouting in anger, and they were all alike.
No question, now, what had happened to the faces of the pigs. The creatures
outside lokked from pig to man, and from man to pig, and from pig to man;
but already it was impossible to say which was which.”