II Ein besonderer Grund für eine Philosophie der Menschenrechte: die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und ethischer Norm
Die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 ließen eine Diskussion wieder aufkommen, die mehr oder weniger abgeschlossen schien. Führen die Unterschiede, die zwischen einzelnen Kulturen bestehen, womöglich gar in einen "Krieg der Kulturen"? Diese Frage ist Ende der 1990-er Jahre durch Veröffentlichungen des amerikanischen Politologen Samuel Huntington aufgeworfen worden und war eine zeitlang Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Selbst der damalige Bundespräsident Roman Herzog beteiligte sich. Unter dem Titel Preventing a Clash of Civilizations ließ er eine Sammlung einschlägiger eigener Stellungnahmen erscheinen.
Mit dem Begriff "Kulturen" waren und sind im gegebenen Zusammenhang solch riesige Komplexe wie "der Westen", "der Osten", "das Christentum", "der Islam", "der Hinduismus" und "der Konfuzianismus" gemeint. Es versteht sich fast von selbst, dass solch allgemeine Kulturbegriffe in vieler Hinsicht problematisch sind, doch sei eine kritische Erörterung fürs Erste zurückgestellt.
Jedenfalls lässt sich nicht bestreiten, dass die Anschläge auf das World Trade Center einige von Huntingtons Thesen bestätigen oder zu bestätigen scheinen. Zeigen sie nicht, dass "der Islam" Werte vertritt, die "der Westen" oder "das Christentum" ablehnen? Und zeigen sie nicht, dass der Unterschied in den Wertauffassungen schließlich in gewaltsame Auseinandersetzungen münden muss? Amerikanische wie europäische Politiker betonen zwar immer wieder, dass die Terroristen, die die Anschläge durchführten, Außenseiter seien. Sie repräsentierten nicht "den Islam". Aber haben diese Außenseiter nicht erstaunlich viele "Sympathisanten"? Lässt sich eine so große Gruppe wie die Taliban treffend als "Außenseiter" charakterisieren? Und die Tausende Palästinenser, die die Anschläge offen bejubelten? Die zahlreichen Pakistani, die gegen eine Auslieferung des nach amerikanischer Darstellung wichtigsten Drahtziehers Usama Bin Ladin protestieren und mit Bürgerkrieg drohen? Wird man nicht einräumen müssen, dass eine kleine Zahl fundamentalistischer Terroristen leicht die Solidarität großer Gruppen ihrer Kultur - im zur Sprache stehenden Fall also "des Islam" - gewinnen kann, so dass es schließlich doch zu einem "Krieg der Kulturen" kommt oder gar kommen muss?
Worin aber lägen dann die letzten Ursachen, Gründe, Motive, Anlässe für solch eine Entwicklung? Sind die sie mitbedingenden unterschiedlichen Wertvorstellungen unüberbrückbar? Gibt es gar ein Menschenrecht auf kulturelle Identität? Auch dies wurde und wird immer wieder behauptet. Doch wie ließe sich ein solches Recht begründen? Welche Konsequenzen hätte ein unbedingtes Recht darauf, zu sein, wie man traditioneller Weise ist?
Setzt man sich mit dem Problem kulturspezifischer Werte auseinander, empfiehlt sich stets aufs Neue eine Lektüre von Heinrich Heines Gedicht Die Wahlesel. Es sei in Auszügen zitiert.
"[...]
Du bist ein
Verräter, es fließt in dir
Kein Tropfen
vom Eselsblute;
Du bist kein
Esel, ich glaube schier,
Dich warf
eine welsche Stute.
Du stammst
vom Zebra vielleicht, die Haut,
Sie ist
gestreift zebräisch;
Auch deiner
Stimme näselnder Laut
Klingt
ziemlich ägyptisch-hebräisch.
Und wärst
du kein Fremdling, so bist du doch nur
Verstandesesel,
ein kalter;
Du kennst
nicht die Tiefen der Eselsnatur,
Dir klingt
nicht ihr mystischer Psalter.
Ich aber
versenkte die Seele ganz
In jenes süße
Gedösel;
Ich bin ein
Esel, in meinem Schwanz
Ist jedes
Haar ein Esel.
[...]
O Welche
Wonne, ein Esel zu sein!
Ein Enkel
von solchen Langohren!
Ich möcht
es von allen Dächern schrein:
Ich bin als
ein Esel geboren.
Der große
Esel, der mich erzeugt,
Er war von
deutschem Stamme;
Mit
deutscher Eselsmilch gesäugt
Hat mich die
Mutter, die Mamme.
Ich bin ein
Esel, und will getreu,
Wie meine Väter,
die Alten,
An der
alten, lieben Eselei,
Am Eseltume
halten."
Heines Gedicht spricht mindestens zwei Formen des Hergebrachten an: die ethnischer Abstammung und die kultureller Tradition. Dabei gibt es implizit die Rechtfertigung wieder, die "die Esel" für ihre Einstellung ins Spiel bringen. Die Einstellung ist freilich präzise zu fassen. Worin besteht sie, genau gesagt? Dann erst lässt sich die Frage nach der Rechtfertigung klar beantworten. Welche Gründe oder Argumente bringen die Esel vor? Und sind diese Gründe stichhaltig?
Eine sozusagen analytische Interpretation und Diskussion von Heines Gedicht ist geeignet, grundsätzliche Probleme der Frage nach dem Verhältnis von (a) Herkunft, Tradition, Sitte usw. einerseits und (b) ethischer und moralischer Normen und ihrer Gültigkeit und Verbindlichkeit andererseits zu klären.