1 Argumente gegen traditionalistische Auffassungen und rein formale Konzepte eines Rechts auf kulturelle Identität
Mit Argumenten gegen Begriffe authentischer, reiner, in sich einheitlicher, geschlossener und/oder statischer Kultur
1. Naturalistischer Fehlschluss. Von Sein lässt sich nicht aufs Sollen schließen. Aus der bloßen Tatsache, dass etwas ist, wie es ist, folgt nicht, dass es so sein sollte oder so bleiben sollte. Dass ich seit zehn Jahren Fahrrad fahre, heißt nicht, dass ich auch weiterhin Fahrrad fahren müsste.
2. Geltung ist unabhängig von Genesis. Die Wahrheit, Trefflichkeit, Stichhaltigkeit oder Gültigkeit einer These oder Theorie ist unabhängig von Zeit, Ort und Autorschaft ihres Entstehens. Etwas ist nicht deshalb fragwürdig, weil es "deutsch" oder "nicht deutsch", "chinesisch" oder "nicht chinesisch" ist. Selbst die Behauptung eines Gegners kann wahr sein.
3. Radikaler Traditionalismus ist selbstwidersprüchlich. Er schließt einen performativen oder pragmatischen Selbstwiderspruch ein; denn jeder Traditionalist weicht selbst von Früherem ab. Sonst müsste er noch leben wie die ersten Menschen.
4. Das Argument, dass man nur Menschen seiner eigenen Kultur verstehen könne, ist selbstwidersprüchlich. Ein Japaner, der einem Europäer gegenüber behauptet, dass nur Japaner Japaner verstehen könnten, begeht einen performativen Widerspruch. Da seine Behauptung symmetrisch ist, besagt sie auch, dass er als Japaner gar nicht wissen kann, ob ein Europäer einen Japaner begreifen könne.
5. Transkulturelle Kritik braucht nicht ethno- oder kulturzentrisch zu sein. Kritisiert man Züge einer fremden Kultur, so braucht man nur (1) ähnliche Züge der eigenen Kultur anzuprangern und (2) Mitglieder aus der fremden Kultur zu zitieren, die vergleichbar urteilen wie man selbst. Und schließlich wäre, wie unter 4. angesprochen, (3) jede transkulturelle Kritik unhaltbar, wenn die z. B. für jede "europäische" Kritik an Nicht-Europäischem gelten würde.
6. Transkulturelle Kommunikation und Verständigung ist auch keinesfalls prinzipiell unmöglich. Sie folgt ja allgemeingültigen Regeln der Logik und allgemein menschlicher Erfahrung, einem (allgemeingültigen) pragmatischen Kausalitätsprinzip, ist Funktion anthropologischer Konstanten wie insbesondere der Abneigung gegen Leid und Schmerz, allgemeiner ethischer Normen usw.
Eine kritische Analyse von Kulturen und Kulturbegriffen liefert weitere Argumente gegen Traditionalismus und den Anspruch auf ein unbedingtes Recht auf kulturelle Identität.
Kulturen sind keine in sich einheitlichen Phänomene. Sie sind vielmehr in sich heterogen. Das gilt insbesondere auch für die in ihnen vertretenen Philosophien und oft sogar für die in ihnen vertretenen Religionen. In einem bewertenden Vergleich verschiedener Merkmale einer Kultur ist deshalb das Argument, dass ein Merkmal wichtig oder erhaltenswert sei, weil es zu dieser Kultur gehöre, unbrauchbar. Kein Charakteristikum einer Kultur kann damit verteidigt werden, dass es eben Charakteristik dieser Kultur sei.
Kulturen sind keine reinen, in sich geschlossenen Entitäten. Jede Kultur ist auch Ergebnis "fremder" kultureller Einflüsse. "Autochthone" Kulturen gibt es nicht. So gibt es z. B. keine reine oder "wahrhaft" deutsche Kultur. "Fremde" Einflüsse lassen sich nicht einfach mit einem Hinweis auf ihre "Fremdheit" abweisen.
Verschiedene Kulturen haben notwendiger Weise auch gemeinsame Merkmale; denn alle Kulturen sind Menschenwerk. Alles, was Menschen gemeinsam haben (anthropologische Konstanten, Orientierung an logischen Gesetzen und Kausalitätsprinzip usw.), geht bestimmend in Kulturen ein. Dazu kommen prägende Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Umwelten. Dass unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen Pyramiden gebaut wurden, ist z. B. durch Gemeinsamkeiten auch des Baumaterials mitbedingt. An wichtige Gemeinsamkeiten kann bei transkulturellen Diskursen angeknüpft werden.
Kulturen sind keine statischen Phänomene. Sie sind veränderliche, dynamische Erscheinungen. Jeder Versuch, den "Ist-Zustand" einer Kultur zu erhalten, scheitert notwendig. Es ist deshalb argumentativ fragwürdig und einfach fruchtlos, sich ganz allgemein und unspezifisch gegen Veränderungen zu wehren.
Sprachen sind distinktive Merkmale von Kulturen. Aber sie bedingen keine unterschiedlichen Wertauffassungen. Die Norm "Du sollst nicht töten" ist nie ein Resultat spezifischer Sprachmerkmale. Sie ist keine Funktion des Hebräischen oder Deutschen. Freilich kann ein Wort wie "töten" unterschiedliche Bedeutungen besitzen.
Die den Alltag bestimmenden distinktiven Kulturmerkmale sind relativ spezifischer Art. Sie liegen nicht auf der Ebene fundamentaler ethischer oder moralischer Normen. Oft sind sie sogar extrem spezifischer Art. Es geht dann um Höflichkeitsformen, Essgewohnheiten, Bekleidungskonventionen oder etwa Frisuren. In bestimmten Kulturen reicht man sich zur Begrüßung die Hände, während man es in anderen vermeidet. Für beide Konventionen gibt es dabei gute Gründe. In manchen Kulturen ist der Genuss von Rindfleisch, in anderen der von Schweinefleisch verboten. In bestimmten Kulturen dürfen sich Frauen nicht in Miniröcken zeigen. Afghanische Männer, die keinen Bart tragen, laufen Gefahr, bestraft zu werden. Das letzte Beispiel ist besonders wichtig. Es kommt immer wieder vor, dass der fragwürdige Versuch, die eigene Kultur in Form einer Auszeichnung radikal gegen andere Kulturen abzugrenzen, zu einer mehr oder weniger willkürlichen Betonung eines hochspezifischen Merkmals führt. So trägt eben der gläubige Mann einen Bart, während der ungläubige und deshalb minderwertige Mann an seiner Bartlosigkeit zu erkennen ist. Aus der Sicht mancher Japaner sind Koreaner (stinkende) Knoblauchfresser. Aus der Sicht mancher Deutschen galt oder gilt dies für Jugoslawen. Rein logisch gesehen, ist es stets möglich, ein spezifisches Merkmal zu finden, dass radikale Abgrenzung erlaubt, mag es objektiv betrachtet noch so unbedeutend sein. Deshalb ist jede Angabe (angeblich relevanter) kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erläutern und zu begründen. Warum hält man einen Unterschied oder eine Gemeinsamkeit für wichtig? In welcher Hinsicht? Und ist die Einschätzung gut begründet? Um es erneut an einem Beispiel zu illustrieren: ist es letztendlich zu rechtfertigen, dass man Menschen einer Kultur gering schätzt und sich etwas besseres dünkt, weil diese Menschen Nudelsuppen schlürfen oder weil die Männer keinen Bart tragen?
Die wichtigen Folgerungen der argumentativen Auseinandersetzung mit Problemen der Traditionalität sind:
Ob eine Auffassung gültig ist, hängt nicht von deren Traditionalität als Traditionalität ab. Prinzipiell können sich alle Menschen argumentativ miteinander verständigen, wenn sie es nur wollen.
Traditionen, Umstände, Erziehung -- kurz, die so genannten Umweltfaktoren -- besitzen jedoch großen (prägenden und nachhaltigen) Einfluss. Sie gehören zur "Macht der Fakten". Deshalb ist es unangebracht, auf Menschen, die in inhumanen Kulturen aufwuchsen und entsprechend denken und handeln, mit moralischem Dünkel herabzuschauen.
Der Versuch, von Außen ändernd in eine Kultur einzugreifen, muss deshalb möglichst vorsichtig, behutsam und Schritt für Schritt unternommen werden.
Insbesondere darf ein solcher Versuch nicht noch größeres Leid mit sich bringen, als die Situation kennzeichnet, die er ändern soll.